Rede im Deutschen Bundestag am 30. April 1992

Für die Bewahrung des Asylrechts

von Konrad Weiß

Der heutige Tag ist ein dunkler Tag in der jungen Geschichte unseres wiedervereinigten Landes. Ein Menschenrecht, ein Grundrecht, das die besten deutschen Frauen und Männer mit ihrem Blut, unter unsäglichen Opfern erkämpft haben, wird hier und heute leichtfertig zur Disposition gestellt. "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht". Dies war und ist einer der kostbarsten Sätze, die je in deutscher Sprache geschrieben wurden.

Er wurde geschrieben aus der unmittelbaren Erfahrung der Schuld, der Verfolgung und des Leidens. Er konnte geschrieben werden, weil deutsche Frauen und Männer an der eigenen Seele erfahren hatten, was es heißt, als Verfolgte eine Zuflucht zu finden, als Ausgestoßene willkommen zu sein, als Geächtete geachtet zu werden. Er mußte geschrieben werden, weil deutsche Männer und Frauen im Innersten erschüttert waren von der Schuld, an der sie schweigend, duldend oder tätig Anteil hatten. Er durfte geschrieben werden, weil sie ein besseres Deutschland beginnen wollten, ein Deutschland, daß keine Mauern baut.

Sechs Jahrzehnte hatte dieses Land zu leiden unter dem Wahn derer, die das Deutschsein zur Religion erhoben hatten und alles "Undeutsche, wie sie es nannten, verfolgten, vertrieben, vernichteten. Die Folge war ein zerstörtes und geteiltes Land, waren Millionen Tote, waren Ächtung und Verachtung. Ist denn vergessen, wie unendlich mühevoll es war, bis wir Deutschen wieder Achtung und Vertrauen fanden, bis wir heimkehren konnten in die Völkerfamilie, bis dieses Land ein demokratisches Deutschland geworden war?

Es erfüllt mich mit Trauer und Scham, wenn nun so kurz nach der Wiedervereinigung das alles vergessen scheint. Es ist eine Schande, daß in unserem Land Ausländer beschimpft und angriffen werden, daß mit Ausländerfeindlichkeit Wahlkampf gemacht wird, und daß Rechtsradikale in deutsche Parlamente gewählt werden.

Es ist eine Schande, daß in diesem Land ungestraft nationalsozialistische Pamphlete verbreitet werden dürfen, und daß sich ein deutscher Staatsanwalt weigert, dagegen vorzugehen - so geschehen in Schwedt im Dezember 1991. Ich kann Ihnen den Unflat nicht ersparen:

Ungestraft wird da gefordert: "Schluß mit den Holocaust-Vorwürfen. Ungestraft wird Treue und Opfersinn, Kameradschaft und Ehre der feigen, diebischen Mörderbande, der SS, verherrlicht. Und ungestraft wird behauptet, daß Ausländer für mehr Kriminalität, mehr Vergewaltigungen, mehr soziale Unruhen, mehr Umweltverschmutzung, Überfremdung, Fremdbestimmung und antideutsche Propaganda verantwortlich seien. Wieder wird gebrüllt: "Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!" So widerwärtig es ist, es gehört zur gegenwärtigen Debatte, daß uns dieser dumpfe Ausländerhaß, der sich breit macht, in seiner ganzen Schäbigkeit bewußt wird. Dieser Ausländerhaß darf nicht die Grundlage für politisches Handeln sein. Er darf nicht die Atmosphäre bestimmen, in der eine so schwerwiegende Entscheidung wie die Änderung des Grundgesetzes gefällt wird.

Es wäre ein schlimmes Zeichen für unsere Demokratie, wenn diese Regierung, wenn die demokratischen Parteien dieses Landes nicht in der Lage sind, dieser Stimmung mit aller Kraft entgegenzutreten und eine menschenwürdige Lösung für die entstandenen Probleme zu finden.

Aber anstatt nach Alternativen zu suchen, durch die das Recht der Verfolgten nicht unzulässig eingeschränkt wird, anstatt konstruktiv zu denken und zu handeln, haben sich Regierung und SPD mit ihrem Asylverfahrensgesetz in defensiver Hilflosigkeit zusammengefunden. Sollte sich diese Tändelei als Prolog einer Großen Koalition erweisen, so ist zu fürchten, daß dies der Prolog zu einer neuen Tragödie der Deutschen wird. Denn auch unsere Demokratie ist verletzlich, ist angreifbar. Nur wenn das sensible Zusammenwirken von Macht und Opposition gewahrt bleibt, ist die Demokratie geschützt.

Ich bitte Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, Sie, die Parlamentarier des wiedervereinigten Deutschland, durch Ihre Entscheidung nicht jene in unserem Land zu ermutigen, die ihr Heil in deutschem Wahn und Wesen suchen. Die Änderung des Artikels 16 wäre eine hilflose Geste, nicht mehr. Sie würde das Flüchtlingsproblem ebensowenig lösen wie neue polizeistaatliche Verfahren. Oder wollen Sie eine neue Mauer um Deutschland bauen?

Die unheilvolle Behauptung, das Boot sei voll, wird regelmäßig mit dem Hinweis verbunden, effektiver und für die betroffenen Menschen humaner sei eine "Bekämpfung der Fluchtursachen". Das mag theoretisch ja stimmen, mit der Realität unserer Welt aber hat das nichts zu tun. Denn alle bisherigen Vorschläge und Maßnahmen hierzu stehen nach Quantität und Qualität in einer lächerlichen Disproportion zum globalen Flüchtlingsproblem. Es ist einfach unredlich, so zu tun, als könne eine isolierte Bekämpfung der Fluchtursachen Erfolg haben, während sich unser Weltwirtschaftssystem nicht wirklich ändert und wir auf der wirtschaftlichen und politischen Vormachtstellung des Nordens, auf Wohlstand und Wachstum beharren.

Ein anderes beliebtes Argument ist das von der Notwendigkeit einer europäischen Harmonisierung des Asylrechts. Natürlich ist der Ausbau der europäischen Gemeinschaft wünschenswert. Aber dabei dürfen wir die Gräben zwischen uns und den armen Ländern des Südens und Ostens nicht noch mehr vertiefen. Die Ideologie von Schengen aber ist jene Ideologie der Abgrenzung und Abschottung, gegen die wir doch nun jahrzehntelang gekämpft haben, und wie ich dachte, mit Erfolg. Soll dies nun hinfällig sein?

Wenn von Medien und Politikern immer nur Abgrenzung und Sicherung gegen Mißbrauch gepredigt wird, bestätigt das Vorurteile gegen Flüchtlinge, gegen Einwanderinnen und Einwanderer in der Bevölkerung. Diese Abwehr grenzt Menschen aus, deren Not und Flucht doch auch durch uns mitverursacht ist, oder zwingt Menschen in die Illegalität, nur weil wir nicht bereit sind zum Teilen. Und verfestigt den Status unterschiedlichen Rechts innerhalb der deutschen Bevölkerung. Diese Politik der Abgrenzung verhindert nicht fremdenfeindliche Angriffe auf die Flüchtlinge, sondern begünstigt diese direkt.

Es ist unerläßlich, daß die Diskussion versachlicht wird. Nicht Horrorparolen, sondern Fakten müssen den Disput prägen. Niemand kann bestreiten, daß die Zahl der anerkannten Asylberechtigten überschaubar ist und kein ernsthaftes Integrationsproblem darstellt. Das gilt auch für die Flüchtlinge, die im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention aufgenommen worden sind. Die Probleme entstehen allein dadurch, daß alle Flüchtlinge und Einwanderer in das Asylverfahren gezwungen werden - und damit sind die Behörden, die Länder und Kommunen natürlich überfordert.

Die angestrebte Änderung des Artikels 16 ist ebenso wie das hoffnungslos verfahrene Asylverfahrensgesetz ein Herumdoktern an Symptomen. Eine wirkliche Entspannung kann nur durch ein völlig neues Konzept für eine geregelte Zuwanderung erreicht werden. Die Gruppe Bündnis 90/Die Grünen hat mit ihrem Paket aus Einwanderungs-, Niederlassungs- und Flüchtlingsgesetz sowie dem Vorschlag zu einer Neubestimmung des Staatsbürgerbegriffs ein solides Angebot gemacht.

Ohne die Anerkennung der Tatsache, daß Deutschland ein Einwanderungsland ist und bleiben wird, und ohne die Umsetzung dieser Erkenntnis in eine verantwortliche Politik, wird es keine Entspannung bei der Zuwanderung geben. Solange das Asylbegehren der einzige legale Weg ist, nach Deutschland einzuwandern, werden die Asylbewerberheime überfüllt und die Behörden überfordert sein. Wenn aber jenen, die aus wirtschaftlicher Not eine Alternative suchen, die geregelte und verantwortlich gestaltete Einwanderung ermöglicht wird, wird dies sehr bald die Zahl der Asylsuchenden vermindern.

Durch unser Einwanderungsgesetz wird die Rechtsstellung aller Zuwanderinnen und Zuwanderer und ihre Rechtsangleichung an die Einheimischen gewährleistet. Die für eine Integration nötigen Leistungen des Staates werden ebenso geregelt wie das Verfahren und die Kriterien einer Einwanderung auf Antrag.

Unser Flüchtlingsgesetz schafft die Voraussetzung für eine uneingeschränkte Einlösung des individuellen Menschenrechts auf Asyl nach Artikel 16 Absatz 2 des Grundgesetzes und gewährleistet durch eine Novellierung des Kontingentflüchtlingsgesetzes die Aufnahme von Armutsflüchtlingen.

Auch ein europäisches Asylrecht muß nach unserer Überzeugung die individuelle Überprüfung eines Asylbegehrens beibehalten und eine gerichtliche Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen gewährleisten. Nicht zu akzeptieren ist das im Gesetzentwurf der CDU/CSU eingeführte Konzept sogenannter "verfolgungsfreier Länder. Flüchtlinge aus solchen Ländern sollen schon an der Grenze zurückgewiesen werden können. Dabei besteht die Gefahr, daß es durch sachfremde Faktoren oder politische Interessen zu gravierenden Fehleinschätzungen kommt und daß dadurch Menschen einer unmittelbaren Gefährdung ausgesetzt werden.

Würde die gegenwärtige Politik der Abwehr gegen Zuwanderinnen und Zuwanderer fortgesetzt, dann müßten Deutschland und Europa immer stärker als Festung ausgebaut werden. Europa würde zur geschlossenen Gesellschaft, die sich gegen die Armut in der Welt abzuschotten versucht. Aber diese Politik wird scheitern. Denn in einer Festung Europa könnten weder Recht noch Demokratie noch Wohlstand erhalten bleiben.

Die Bekämpfung von Fluchtursachen bedeutet also politische Arbeit für eine gerechtere politische und ökonomische Weltordnung, für eine solidarische Gesellschaft. Eine Voraussetzung dafür ist, schon heute die Zuwanderung und den Status der Zuwanderinnen und Zuwanderer in transparenter und demokratischer Weise zu regeln und das Asylrecht zu schützen und zu bewahren. Langfristig sind Fluchtursachen jedoch nur durch tiefgreifende Wandlungen zu beseitigen. Nur wenn es gelingt, das Gefälle zwischen Norden und Süden, zwischen Osten und Westen auszugleichen, werden künftige Generationen in Frieden leben und überleben.

Die Gruppe Bündnis 90/Die Grünen wird einer Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes nicht zustimmen. Das Recht "Politisch Verfolgte genießen Asyl bleibt für uns, die wir es spät erworben haben, kostbar und unantastbar.

© Konrad Weiß 1992-2024