Versöhnung ist ein Geschenk. Man kann sie nicht fordern, nicht erkaufen, nicht erzwingen. Man kann sie nur erbitten. Versöhnung setzt Einsicht in die Schuld und Bereitschaft zur Sühne voraus, den Willen also, Verantwortung zu übernehmen. Das ist zwischen Völkern nicht anders als zwischen Freunden oder Eheleuten, in der Familie oder im Team.
Im Sommer 1965 gehörte ich zur ersten Gruppe junger Deutscher, die mit der Aktion Sühnezeichen nach Auschwitz gepilgert sind. Wir waren zehn Tage lang von Görlitz aus mit den Rädern unterwegs, haben unterwegs geschwiegen und gebetet und bescheiden gelebt. Damals, zwei Jahrzehnte nach dem Krieg, waren viele Wunden längst nicht geheilt. Es war durchaus nicht selbstverständlich, als Deutscher in Polen zu sein.
An eine Begebenheit erinnere ich mich wie heute: Es war an einem der ersten Tage, irgendwo in einem Dorf in Schlesien. Wir machten in der Mittagshitze Rast und baten an einem Pfarrhaus um einen Schluck Wasser. Als der Pfarrer die deutschen Stimmen hörte, schlug er die Tür zu und beschimpfte uns laut. Erst als ihm unser polnischer Begleiter sagte, dass wir als Pilger nach Auschwitz unterwegs seien, kam er heraus und erzählte uns unter Tränen, was Deutsche ihm und seiner Familie angetan hatten. Wir durften uns am Brunnen bedienen, er gab uns Brot und endlich seinen Reisesegen.
Wie wir damals, haben über die Jahrzehnte hin immer wieder Sühnezeichen-Freiwillige die heilende Kraft der Versöhnung erfahren. Ansteckende Gesundheit, nannte Lothar Kreyssig, der Gründer der Aktion Sühnezeichen, das bildkräftig. Die Verstocktheit der Deutschen hatte ihn schon lange umgetrieben. Das tiefe Erschrecken nach dem Krieg über das eigene Versagen, die eigene Schuld war bei vielen längst verdrängt und vergessen. Selbst vom Stuttgarter Schuldbekenntnis hatten sich manche wieder distanziert. Es war damals ähnlich wie heute: Bereitwillige Exkulpation und völkischer Hochmut machten sich erneut breit.
Ende April 1958 fand in Berlin eine der letzten gemeinsamen Synoden der EKD vor dem Mauerbau statt. Die Synodalen tagten abwechselnd im Ost- und im Westteil der Stadt. Es standen schwierige Themen auf der Tagesordnung: die andauernden Repressionen in der DDR gegen christliche Kinder und Jugendliche, der Militärseelsorgevertrag in Westdeutschland und eine Stellungnahme zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr.
Am fünften Verhandlungstag der Synode, am 30. April, wurde im Spandauer Johannesstift leidenschaftlich über die Frage der Atombewaffnung debattiert. Es gab strikte Gegner, wie Martin Niemöller, und es gab Befürworter wie den Erlanger Theologen Walter Künneth, der die Atombewaffnung für eine ethische Pflicht hielt, um "einen Damm gegen die Unmenschlichkeit aufzuwerfen." Fast drohte die Synode an dieser Frage zu zerbrechen. Schließlich einigte man sich doch auf eine Stellungnahme. Zwar wurde die grundsätzliche Absage an den mit Massenvernichtungsmitteln geführten totalen Krieg bekräftigt. Aber zugleich musste die Synode ihre Unfähigkeit bekennen, zu einer gemeinsamen Aussage zu finden.
Unmittelbar danach erhielt Präses Lothar Kreyssig aus Magdeburg Gelegenheit, seinen Aufruf "Wir bitten um Frieden" vor dem Plenum vorzutragen. Er verzichtete darauf, auf die vorherige Auseinandersetzung einzugehen und bat, man möge die Sache, die er vorzutragen habe, nicht als eine billige Flucht missverstehen.
Ein solcher Dienst, wie er ihn vorschlage, löse die politischen Fragen nicht. Aber als ein Zeichen der Sinnesänderung könne er helfen, dass die Voraussetzungen für politische Entscheidungen erhalten bleiben. Und wörtlich: "Dass unbewältigte Gegenwart an unbewältigter Vergangenheit krankt, dass am Ende Frieden nicht ohne Versöhnung werden kann, das ist weder rechtlich noch programmatisch darzustellen. Aber man kann es einfach tun."
Das war die Geburtsstunde der Aktion Sühnezeichen. Noch am selben Abend unterzeichneten viele Synodale und Gäste der Synode den Aufruf. Manch einer mag das Unbehagen, das ihn bei den Kontroversen dieses Tages erfüllt hatte, durch seine Unterschrift kompensiert haben. Die ganze Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit dieser Synode gehören jedenfalls untrennbar zur Gründungsgeschichte der Aktion Sühnezeichen.
Auch Helmut Gollwitzer hat das so erlebt: "Hier war also Gelegenheit gegeben, dass die ganze uneinige Synode auf einmal wieder einig war. Genau das machte mich misstrauisch und reserviert gegen die Absicht von Lothar Kreyssig... Man kann sich vorstellen, wie froh ich heute bin, dass ich damals meinen Vorbehalten gegen seine Unternehmung nicht nachgegeben habe. Er hat durch seinen Vorschlag eine größere Fantasie bewiesen, als mir möglich gewesen ist. Die Gründung der Aktion Sühnezeichen ist ein Exempel, wie verhängnisvoll eine Kirche dran ist, die in die Hände der Theologen fällt... Mindestens als Korrektiv bedarf die Kirche Jesu Christi solcher Leute wie Lothar Kreyssig, des Typs des Schwärmers, des Visionärs, des Propheten. Schließlich steht ja dieser Typ und nicht der Typ des Theologen am Ursprung der Kirche."
Kreyssigs Idee, in den ehemaligen Feindländern "mit den Händen etwas Gutes" zu tun, so ein Zeichen der Sühne zu geben und um Versöhnung zu bitten, hat junge Deutsche damals wie heute begeistert. Es wäre wohl aber bei der Idee geblieben, wenn sich nicht alsbald tatkräftige Helfer und Unterstützer gefunden hätten. Im Westen waren das vor allem Erich Müller-Gangloff und Franz von Hammerstein, Johannes Müller und Richard Nevermann. Im Osten Christian Schmidt und Günter Särchen. Und viele, sehr viele großherzige Menschen in den Ländern, die von Deutschland einst überfallen worden waren, wo Deutsche unzählige Menschen ermordet, geschändet und gedemütigt hatten.
Den Anfang machten 1959 Holland und Norwegen, England und Frankreich folgten. 1961 gewährten israelische Kibbuzniks den ersten westdeutschen Freiwilligen Gastfreundschaft. 1965 pilgerten junge Ostdeutsche nach Polen, um in Auschwitz und Majdanek zu arbeiten, ein Jahr später in Lidice in der CSSR. In der Sowjetunion ebneten erst die Reformen Gorbatschows Ende der 80er Jahre den Sühnezeichen-Freiwillige den Weg. Im Lauf der Jahrzehnte sind es tausende junge Deutsche gewesen, die Kreyssig Aufruf gefolgt sind, in etwa zwanzig Ländern. Zu dieser Geschichte gehört auch, dass 1978 zwei junge Freiwillige, Susanne Zahn und Christoph Gaede, in Israel von palästinensischen Terroristen ermordet wurden.
Obwohl Sühnezeichen als gesamtdeutsche Aktion gegründet worden war und viele junge Ostdeutsche sich gemeldet hatten, konnte an den Langzeit-Einsätzen niemand aus der DDR teilnehmen. Das hatten die kommunistischen Machthaber strikt verboten. Sie standen auf dem Standpunkt, DDR-Bürger hätten mit den Verbrechen der "Faschisten" nichts zu tun. Eine verheerende Geschichtsklitterung, die bis heute nachwirkt. Nicht zufällig konnten Pegida, AfD und Co. gerade unter den Ostdeutschen ihre Gefolgschaft so erfolgreich rekrutieren. Wer es nie gelernt hat, sich selbst zu hinterfragen und Verantwortung für das eigene Denken und Tun zu übernehmen, geht schnell den billigen Parolen von Populisten und Ideologen auf den Leim.
Lothar Kreyssig verzichtete damals aus Solidarität mit den Ausgegrenzten darauf, die jungen Freiwilligen an ihren Einsatzorten zu besuchen. Aber er schickte ihnen allwöchentlich Briefe mit Meditationen, Gebeten und Berichten. Nach dem Mauerbau 1961 gab er seine Ämter in der Gesamtkirche und den Dienstsitz in Westberlin auf und blieb in der DDR, um nun dort seine Aktion aufzubauen.
An langfristige Einsätze wie im Westen, in der Regel ein Jahr, war in der DDR nicht zu denken. So wurde die Idee zu den Sommerlagern geboren, die es bis heute gibt. Das erste fand 1962 in Magdeburg statt, wo drei im Krieg zerstörte Kirchen enttrümmert wurden - eine Knochenarbeit. Der erste Auslandseinsatz sollte 1964 in Polen stattfinden. Aber die SED ließ die jungen Frauen und Männer nicht ausreisen. Sie blieben dennoch bei ihrem Vorhaben und pilgerten nach Sachsenhausen und Ravensbrück. Ein Jahr später überquerten sie einzeln die Grenze und schlossen sich erst auf polnischem Boden als Gruppe zusammen.
Die beiden Zweige der Aktion Sühnezeichen, die es nun gab, entwickelten sich sehr unterschiedlich. Zwar blieb es im Westen bei langfristigen Einsätzen. Aber der Schwerpunkt verlagerte sich von den anfänglichen Bauprojekten hin zu sozialen Diensten, zur Arbeit mit Überlebenden der Shoa, mit Behinderten und sozial Benachteiligten. Unter dem Einfluss der 68er wurde man säkularer und linker und nannte sich Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (ASF).
Ein ungewöhnlicher Sühnezeichendienst begann 1965 in Dresden. Eine Gruppe junger Engländer kam in die Stadt, die im Februar 1945 von den Alliierten zerbombt worden war, um ein eigenes Sühnezeichen zu errichten. Es war eine großmütige Antwort auf die in Coventry von deutschen Freiwilligen ausgesprochene Bitte um Versöhnung. Diese Engländer räumten ein halbes Jahr lang Trümmer und Schutt am Krankenhaus der Diakonissenanstalt, zwei Jahre später konnte das wiederaufgebaute Gebäude eröffnet werden. Zeitweise konnten sich auch junge Freiwillige aus der DDR beteiligen.
In der DDR blieb ASZ eng an die Kirche gebunden; eine eigenständige Organisation war undenkbar. Auch bei der Form der Sommerlager blieb es. Bis 1992 beteiligten sich über 12.000 junge Leute. Von Anfang an nahmen auch junge Katholiken teil. Zu den regelmäßigen Projekten gehörten Pflegearbeiten auf jüdischen Friedhöfen und in ehemaligen Konzentrationslagern, Hilfe in sozialen Einrichtungen und in Gemeinden. Ein besonderer Aspekt war die Arbeit mit Behinderten. Alljährlich fanden in Alt-Karin in Mecklenburg Sommerlager mit Behinderten statt, durch die zugleich den überlasteten Eltern ein kurzer Urlaub ermöglicht wurde.
Nach 1989 ließen sich ASF und ASZ mit ihrer Wiedervereinigung Zeit. Sie versuchten die teils gravierenden Unterschiede, die in der langen Zeit der Trennung gewachsen waren, zu verarbeiten und zu integrieren. Das war nicht immer einfach, ist aber gelungen. Für die Freiwilligen heute ist das längst ohne Belang.
Zur Besonderheit der Sühnezeichen-Arbeit in Ost- und West gehörte von Anfang an die sorgfältige Vorbereitung und Begleitung der jungen Teilnehmer. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte blieb zentrales Thema. Das war besonders in der DDR wichtig. Junge Menschen lernten nicht nur ein anderes Geschichtsbild kennen, sie erlebten auch eine andere Kultur der politischen Diskussion. Sie lernten Menschen mit anderen Ansichten und Werten kennen. Aktion Sühnezeichen wurde zur Schule der Demokratie. Viele, die 1989 an der Friedlichen Revolution beteiligt waren, sind durch diese Schule gegangen.
Diese Offenheit, der Respekt vor Menschen anderer Herkunft zeichnet die Arbeit von ASF bis heute aus. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich neue Arbeitsfelder aufgetan, andere haben an Bedeutung verloren. Jede neue Generation entdeckt neue Aufgaben und Möglichkeiten. Unpolitisch war die Aktion Sühnezeichen nie. Das Wort Kreyssigs, dass unbewältigte Gegenwart an unbewältigter Vergangenheit krankt, bestimmt die Arbeit bis heute. Das wird sicher auch in Zukunft so sein.