Am 24. August 1989 wurde Tadeusz Mazowiecki vom Sejm zum Ministerpräsidenten der Volksrepublik Polen gewählt. Er war seit Jahrzehnten der erste Regierungschef eines Ostblockstaates, der nicht der kommunistischen Partei angehörte. Bei den Wahlen im Juni 1989, die das Ergebnis von Verhandlungen am Runden Tisch in Warschau waren, hatten die Kommunisten eine verheerende Niederlage erlitten. Obwohl ihnen nach den Vereinbarungen des Runden Tisches eine Anzahl der Sitze zugestanden hätte, wurden sie nicht gewählt. Es folgten schwierige Verhandlungen, die den ganzen Sommer über andauerten. Schließlich kam man überein, die unterlegenen Kommunisten bei der Regierungsbildung einzubeziehen. Tadeusz Mazowiecki, katholischer Publizist und Mitbegründer der Unabhängigen Gewerkschaft Solidarność, wurde Ministerpräsident. Die Opposition hörte auf, Opposition zu sein. Es war die Geburtsstunde der Dritten Polnischen Republik, eines neuen demokratischen Polen.
Einige Monate zuvor, im Mai 1988, hatte ich Mazowiecki in Warschau getroffen, in seiner bescheidenen Wohnung in einem Wohnblock aus der Stalin-Ära. Er kam, übernächtigt und völlig erschöpft aus Danzig, wo er, wie schon 1980, die streikenden Arbeiter der Leninwerft beraten hatte. Damals, im Frühjahr 1988, wurde überall in Polen gestreikt. Dabei ging es auch um die Wiederzulassung der Solidarność. Zu deren geistigen Vätern gehörte Mazowiecki. Er hatte sich im Herbst 1980 spontan den streikenden Arbeitern zur Verfügung gestellt und war fortan einer ihrer maßgeblichen Berater. Während der Internierung zur Zeit des Kriegsrechtes hatte er mit anderen Intellektuellen die Strategie der Opposition erarbeitet, die sie nun zur führenden politischen Kraft in Polen hatte werden lassen. Unvergeßlich ist mir die stolze Gewißheit, mit der er mir im Mai 1988 sagte: Wir werden in Polen eine Oppositionspartei haben!
Anlaß für unser Gespräch waren Recherchen für mein Buch über Lothar Kreyssig, den Gründer der Aktion Sühnezeichen. Mazowiecki sagte mir damals sinngemäß, was er 1991 in Berlin in einem Vortrag über die neue Nachbarschaft zwischen Deutschen und Polen wiederholen sollte. Dort begann er seine Reflexionen über die letzten Jahrzehnte deutsch-polnischer Geschichte mit einer Laudatio. Er wolle nicht, sagte er, daß man vergißt, daß es in der "ideologisch gleichgeschalteten und in diesem Punkt todernsten DDR" frühzeitig Menschen und Gruppen gegeben hat, die sich von den herrschenden Regeln und Schemata befreit hatten; zu ihnen zähle er Lothar Kreyssig, Günter Särchen, die Aktion Sühnezeichen und die Evangelischen Akademien. Gerade sie seien für ihn und seine Freunde von der polnischen Oppositionsbewegung wichtige Partner gewesen.
Als Publizist und Politiker vertrat Tadeusz Mazowiecki einen liberalen, sozial orientierten Katholizismus, der am Zweiten Vatikanischen Konzil orientiert war. Er war offen für Dialog und Versöhnung. Er gehörte zu den ersten, die in den sechziger Jahren die Aktion Sühnezeichen nach Polen eingeladen hatten. Über die ersten Sühnezeichen-Gruppen in Polen äußerte er sich 2009 im Film Leise gegen den Strom von Thomas Kycia und Robert Żurek:
Das waren Pioniere der deutsch-polnischen Versöhnung. Das waren Menschen, die den Weg geebnet haben. Sie haben die Polen zum Nachdenken gebracht, daß so etwas überhaupt möglich ist. Sie haben auch die Deutschen nachdenklich gemacht... Ich würde es vergleichen mit dem Steinewerfen auf's Wasser. Wenn man die Steine wirft, entstehen immer größere Wellen. Und diese Menschen waren in Polen der Stein, der immer größere Wellen erzeugte. Hier mußten sie nicht kämpfen. Hier wirkte das Echo ihrer Taten.
Tadeusz Mazowiecki ist am 28. Oktober 2013 in Warschau gestorben. Er ist in Laski begraben, dem geistlichen und geistigen Zentrum der polnischen katholischen Laienbewegung, das immer auch Zentrum der Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen gewesen ist.