Die meisten meiner Vorfahren haben in Gegenden gelebt, die heute zu Polen gehören: In Niederschlesien, im Glatzer Bergland, am Fuße des Riesengebirges, in der Gegend von Glogau. Wenn man älter wird, beginnt man sich für seine Herkunft zu interessieren. Bei mir fing das so Ende der siebziger Jahre an. Damals war es in der DDR fast unmöglich, etwas über die ehemals deutschen Gebiete zu erfahren. Meine Voreltern hatten zumeist in unbedeutenden Dörfern und Städtchen gelebt, die ich auf den polnischen Landkarten nicht ausmachen konnte. Literatur über Schlesien gab es kaum. Also legte ich mir eine Kladde an, in die ich jeden identifizierten Ort eintrug. Erst viele Jahre später gelang es mir, die meisten Orte ausfindig zu machen. Und vor vier Jahren bin ich mit meiner Frau dann auf eine "Ahnentour" gegangen, und wir haben einige dieser Orte besucht.
In meiner Geburtsstadt Lauban bin ich früher und öfter gewesen. Das erstemal 1965 bei der Pilgerfahrt mit der Aktion Sühnezeichen. Die Stadt war in letzten Monaten des Krieges schwer zerstört worden; ich habe sie damals, zwanzig Jahre nach dem Krieg, als grau und fremd empfunden. Es war jedenfalls nicht der Ort, der für meine Mutter noch die Heimat gewesen war, deren Verlust sie bis zuletzt geschmerzt hat. Damals wußte ich noch nicht, daß viele der polnischen Neubürger ihrerseits Vertriebene waren, die ihre Heimat verloren hatten, und die dann lange mit der Angst gelebt haben, daß ihnen die neue Heimat wieder genommen werden könnte.
Später, Anfang der achtziger Jahre, bin ich noch einmal mit meiner jüngsten Tochter in Lubań gewesen. Und dann erst wieder nach der Wiedervereinigung zusammen mit meinem Bruder, der sehr viel älter war als ich, und der mir die Straße gezeigt hat, wo unser Haus stand, die Kirche, in der ich getauft wurde, das Rathaus, wo mein Vater gearbeitet hat. Erst dadurch ist mir die Stadt näher gekommen. Ja, und dann kam ich vor vier Jahren auf unserer "Ahnentour" in eine Stadt, die sich völlig verändert hatte. Die neuen Laubaner haben aus eigenen Mitteln das historische Stadtzentrum wiederaufgebaut. Und haben dabei auch die alte kursächsische Postmeilensäule aufgestellt, in der auf deutsch die Entfernungen nach Breslau und Hirschberg und Görlitz angegeben sind.
Die schönste Begegnung mit dem neuen Lauban aber hatte ich vor ein paar Jahren, als Gymnasiasten aus Wittichenau und Lubań mich für einen Film über Günter Särchen interviewten, den sie gemeinsam gedreht haben. Und die sich ganz selbstverständlich auch für die deutsche Vergangenheit ihrer Heimatstadt interessierten.
Und das unterscheidet sich wirklich von dem, was ich bei meinen ersten Besuchen in Polen erlebt habe. Damals, zwanzig, dreißig Jahre nach dem Krieg, war das, was Deutsche den Polen angetan hatten, noch so lebendig. Ich werde nie die Scham und die Trauer vergessen, die mich 1965 bei der Sühnezeichen-Arbeit in Auschwitz-Birkenau erfüllt hat. Ich habe oft darüber gesprochen. Damals habe ich begriffen, wirklich ganz elementar begriffen, das alles, was Deutsche durch den Krieg und nach dem Krieg erlitten haben, von Deutschen ausgegangen ist. Daß alles, auch der Verlust der Heimat, die Konsequenz deutscher Verbrechen, deutschen Unrechts, deutscher Unmenschlichkeit gewesen ist.
Bald nach unserer Pilgerfahrt wurde von den polnischen katholischen Bischöfen jener Satz gesprochen, der die Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen wirklich eingeleitet hat, und der das ausdrückt, was Versöhnung im Kern ist: Wir vergeben und bitten um Vergebung. Ich finde es großartig, daß dieser Satz heute in Wroclaw in bronzenen Lettern zu lesen ist, auf polnisch und auf deutsch. Das erste Signet der Aktion Sühnezeichen war das "Sühnemännchen", eine Figur, die sich demütig beugt und die Arme bittend ausstreckt. Für Lothar Kreyssig, den Gründer der Aktion Sühnezeichen, und uns, die ihm damals gefolgt sind, war diese Bitte unlösbar verbunden mit der Bitte aus dem 2. Korintherbrief Laßt euch versöhnen mit Gott. Daß uns, Deutschen und Polen, Versöhnung geschenkt worden ist, ist wirklich Gnade. Versöhnung, das weiß ich heute, kann man weder einfordern noch erarbeiten, allenfalls erbitten. Sie ist immer ein Geschenk.