Publik-Forum, Heft 9 vom 8. Mai 2015

Mein Tag der Befreiung. Persönliche Anmerkungen zu einem historischen Datum

Warum wir mehr Menschlichkeit, mehr Nächstenliebe, mehr Versöhnung brauchen.

von Konrad Weiß

Der Krieg ist mit dem Kriegsende nicht zu Ende. Unter den Folgen haben auch die Nachgeborenen noch zu leiden. Ich bin während des Zweiten Weltkriegs geboren, meine ersten Erinnerungen setzen mit der Flucht aus Schlesien im Februar 1945 ein. Meine Kindheit lang blieb der Krieg allgegenwärtig. Wir waren eine Generation ohne Väter, auch ich hatte meinen Vater durch den Krieg verloren. Es waren vor allem unsere Mütter, die die Last des Krieges zu tragen hatten. Die zahllosen zerstörten Familien sind wohl das Schlimmste, was der Krieg den Menschen antut. Bis heute. Weltweit. Das wirkt am längsten nach. Auch viele der Väter, die damals überlebt hatten, waren traumatisiert, waren seelische und körperliche Krüppel, litten unter dem, was sie getan oder mit angesehen hatten.

Zu einer Nachkriegskindheit gehören, nahezu selbstverständlich, Trümmer, Ruinen und Gräber. Das schien uns nicht immer so schrecklich, wie es war. Am Kanal in der kleinen Stadt, wo ich aufgewachsen bin, lag noch jahrelang eine abgestürzte englische Militärmaschine, die von den Leuten nach und nach ausgeschlachtet wurde. Aus den Gummimatten in der Pilotenkanzel wurden Schuhsohlen gemacht; das Ställchen meiner Maus hatte Gitter aus PVC, die aus einem der Flugzeugakkus stammten. Die Wälder, in denen wir Pilze und Beeren suchten, waren voller Bombentrichter und Kriegsschrott. Zuweilen stießen wir, mitten im Wald, auf ein einsames Grab. Wir fanden Uniformreste, Gasmasken und Stahlhelme, verrostete Gewehre und Munition. Stahlhelme und Gasmaskenbehälter konnte man abliefern und in Töpfe und Milchkanne umtauschen. Aber die Blindgänger oder die Munition, mit der zu spielen so verführerisch war, haben manchen Gleichaltrigen zerrissen.

Und dann die Flüchtlinge. Ich war ja selbst Flüchtlingskind. Aber mir ist das Schicksal vieler Altersgenossen erspart geblieben, in einer Barackensiedlung aufwachsen zu müssen. Die hießen bei uns Waldfrieden, Henkelbaracken oder Silva-Siedlung, ein ehemaliges Zwangsarbeitslager. Wer als Flüchtling dort leben mußte, war stigmatisiert und galt fast als asozial. Ich habe später miterlebt, wie glücklich Klassenkameraden waren, wenn ihre Eltern endlich eine richtige Wohnung in der Stadt gefunden hatten. Nur selten wurden Flüchtlinge, obwohl es doch Landsleute waren, mit offenen Armen aufgenommen. Denn natürlich waren sie eine Last. Im Dezember 1947 wurden in Deutschland über elf Millionen Flüchtlinge gezählt. Dazu kamen etwa 6,5 bis 7 Millionen DPs - Displaced Persons - ehemalige Häftlinge aus den Vernichtungs- und Konzentrationslagern, sowie Zwangs- und Fremdarbeiter. Viele - krank, traumatisiert und entwurzelt - irrten im Land umher oder kamen in Auffanglager der Alliierten. Nicht wenige von ihnen, besonders aus den Sowjetrepubliken, blieben heimat- und staatenlos. Da waren Konflikte unausweichlich.

Kalte Heimat hat vor einigen Jahren Andreas Kossert sein Buch über die Flüchtlingsintegration nach dem Zweiten Weltkrieg genannt und damit sehr treffend die Situation beschrieben. Kalte Heimat - die Angst vor dem Fremden scheint tief im Menschen verankert zu sein. Das ist heute nicht anders als damals. Deshalb ist es so wichtig, daß der instinktiven Abwehr des Fremden bewußt Menschlichkeit und Nächstenliebe entgegengesetzt werden. Die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und Heimatlosen muß nicht nur von der Politik ausdrücklich gewollt, sondern auch von der Zivilgesellschaft und den moralischen Autoritäten - den Kirchen und Religionsgemeinschaften, den Schulen und Medien - ausdauernd gefordert und gefördert werden. Menschen in Not eine neue Heimat zu geben, sie aufzunehmen und ihnen ein freundlicher Nachbar zu sein, gerade das gehört doch zu den abendländischen Tugenden - nicht aber geifernde Abwehr und Fremdenfeindlichkeit. Über diese Werte nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa zu sprechen, ist angesichts der Flüchtlingsdramen überfällig.

Auch vor siebzig Jahren, in einer Zeit, in der es an allem mangelte, war die Integration so vieler Menschen eine große Herausforderung und eine große Leistung. Das hat Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gebraucht. In der Sowjetischen Besatzungszone, dann in der DDR, durften sich Flüchtlinge alsbald nicht mehr Flüchtlinge nennen, sondern wurden beschönigend zu Umsiedlern gemacht. Das Schlimmste war, daß auch nicht mehr über das erfahrene Leid und über die verlorene Heimat gesprochen werden durfte. Natürlich blieb in den Familien die Heimat und der Heimatverlust ein zentrales Thema, oft aber, mangels offener Auseinandersetzung, auch als unbewältigtes Trauma.

In den Westzonen und der frühen Bundesrepublik wurden aus den Flüchtlingen Heimatvertriebene, die sich oft politisch organisierten und zu einer beachtlichen politischen Kraft wurden. Es dauerte Jahrzehnte, bis auch in diesen Verbänden die politische Realität akzeptiert und der Verlust der Heimat als Folge des von den Deutschen begonnenen und grausam geführten Krieges gesehen und akzeptiert werden konnte. Immer mehr Flüchtlinge aber, im Osten wie im Westen begriffen, daß man keine Zukunft gestalten kann, wenn man sich nicht, auch im Herzen, von dem löst, was ohnehin verloren ist. Allmählich sind so immer mehr von ihnen zu Pionieren der Aussöhnung und europäischen Integration geworden.


Mutter Heimat im Sowjetischen Ehrenmal in Pankow April 2010 © Konrad Weiß     Gedenktafeln am Sowjetischen Ehrenmal in Pankow April 2010 © Konrad Weiß
Sowjetisches Ehrenmal Schönholz in Berlin-Pankow, Statue Mutter Heimat und Wand mit Ehrentafeln

Auch für mich, obwohl in der DDR aufgewachsen, war es keineswegs selbstverständlich, den Verlust der Heimat zu akzeptieren und den 8. Mai als Tag der Befreiung zu verstehen. Meine Mutter hatte Ende April 1945 noch versucht, mit ihren Kindern und anderen Frauen aus der Verwandtschaft westwärts über die Elbe zu fliehen, vergeblich. In einem kleinen Ort, zwanzig Kilometer vor der Elbe, hatten wir in einer Scheune Unterschlupf gefunden. In der Nacht rückte die Rote Armee ein. Natürlich habe ich als Dreijähriger nicht verstanden, was da geschah und was die Schreie und dann das hemmungslose Schluchzen der Frauen zu bedeuten hatten. Aber ich habe die Angst gespürt, diese unmenschliche Angst. Wir lagen auf dem Heuboden unter Stroh und Heu verborgen und blieben verschont. Aber diese Angst an meinem Tag der Befreiung kann und werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen.

In der DDR wurde 1950 der 8. Mai, der Tag der Befreiung, als gesetzlicher Feiertag eingeführt. Aber ich kann mich nicht erinnern, in meiner Kindheit das Wort Befreier im privaten jemals anders als abwertend oder ironisch gehört zu haben. Über das Geschehen bei Kriegsende wurde nicht gesprochen und durfte nicht gesprochen werden. Vor allem aber: Die als Befreier gekommen waren, hatten uns im Osten alsbald eine neue, die stalinsche Diktatur aufgezwungen. Daß das etwas in sich zutiefst Widersprüchliches war, hat sich mir auch als Kind schon mitgeteilt. Auf der anderen Seite des Birkenwäldchens, wo wir wohnten, war seit 1947 ein sowjetischer Soldatenfriedhof, wo am Tag der Befreiung Kränze niedergelegt wurden. An demselben Wäldchen aber, ein paar Schritte um die Ecke, residierte in einer Villa auch die GPU, wie die sowjetische Geheimpolizei NKDW damals allgemein genannt wurde. Nachts hörte man Schreie aus den Kellern des Hauses. Daß Menschen dorthin verschleppt wurden und nach Sibirien verschwanden, wußten damals auch schon wir Kinder, ohne natürlich zu verstehen, was das wirklich bedeutete.

Später, in meiner Schulzeit, wurde alles, was mit der Sowjetunion zu tun hatte, in geradezu manischer Weise verherrlicht und idealisiert. Die anderen Befreier, die Amerikaner, Engländer und Franzosen, waren da längst wieder zu Klassenfeinden geworden. Die SED hatte sich ja alsbald auf die Seite der Sieger geschlagen, im Laufe der Jahre wurde die ganze DDR gewissermaßen zur Siegermacht deklariert. Die Faschisten, Kriegstreiber und Ewiggestrigen saßen alle in Westdeutschland. Ich bin zum Glück in einiger Distanz zu dieser Propaganda erzogen worden, so daß bei mir nicht jede Lüge verfing. Diese kollektive Rechtfertigung der Ostdeutschen führte allerdings auch zur Verdrängung und Unfähigkeit zu trauern, nicht anders als in Westdeutschland.

Die DDR, die vorgeblich den Faschismus mit den Wurzeln ausgerottet hatte, war so viel besser nicht. Eine Auseinandersetzung mit der Schuld der Deutschen und den wirklichen Ursachen der deutschen Verbrechen gab es auch in der DDR nicht wirklich. Die Verbrecher wurden, zum Teil jedenfalls, bestraft. Die Millionen Mitläufer des Nationalsozialismus aber und alle, die sich durch schweigende Zustimmung schuldig gemacht hatten, blieben weiter zum Schweigen verurteilt. Ihnen wurde die Gnade der Reue verweigert. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis wurde ja von vielen alsbald auch wieder in Frage gestellt. Die Deutschen, im Osten wie im Westen, sind zu schnell zur Tagesordnung der neuen Ordnungen übergegangen. Und weil der Kampf gegen den Faschismus in der DDR ja häufig so selektiv, einseitig und holzschnittartig dargestellt wurde, wurde auch das leicht als SED-Propaganda abgetan.

1958 hatte Lothar Kreyssig die Aktion Sühnezeichen gegründet, weil er verzweifelt war über die Verstocktheit der Deutschen. "Wir haben vornehmlich darum noch immer keinen Frieden, weil zu wenig Versöhnung geschieht", hieß es in seinem Aufruf. Es gelte, der Selbstrechtfertigung, der Bitterkeit und dem Hass eine Kraft entgegenzusetzen, nämlich Vergebung zu erbitten und selbst wirklich zu vergeben. Dazu reichten Worte allein nicht.

Erst die Versöhnung durch zeichenhaftes Handeln - wie der Briefwechsel der Bischöfe, der Kniefall Willy Brandts und die Aktion Sühnezeichen selbst - hat schließlich den Weg zum Dialog geöffnet, zur Auseinandersetzung mit dem Leid der anderen und mit der eigenen Geschichte. Versöhnung als einzige Chance für etwas mehr Frieden auf der Welt: diese Grundidee ist angesichts der weltweiten Konflikte, der sich feindlich und unversöhnlich gegenüberstehenden Menschen, Religionen, Parteien, so dringlich wie nie. Weltweit praktizieren das bis heute junge Menschen zum Beispiel im Rahmen von Sühnezeichen.

1965 gehörte ich zur ersten Gruppe junger Deutscher, die mit der Aktion Sühnezeichen nach Auschwitz gepilgert sind. In Auschwitz-Birkenau haben wir die Grundmauern des Bauerngehöfts freigelegt, das der SS zunächst als Vergasungsstätte gedient hatte. Auf den Feldern dahinter hatten die Mörder die Asche der Ermordeten verstreuen lassen. Wenn wir einen Grassoden aushoben, griffen wir, zwanzig Jahre nach dem Krieg, in die zu Erde werdende Asche der Menschen. Wir fanden Knochensplitter und Zähne, ein Brillengestell, eine Kindermurmel. Es war so beschämend.

Damals, in Auschwitz, habe ich begriffen, was es heißt, Deutscher zu sein, welche Verantwortung uns, auch den Nachgeborenen, auferlegt ist. Es war dies keine Frage der Schuld für uns Junge, die wir dort gearbeitet haben. Von einer sogenannten Kollektivschuld halte ich nichts, Schuld ist immer etwas Persönliches. Aber damit Versöhnung geschehen kann, muß eine Schuld erkannt und benannt werden, müssen Menschen andere Menschen um Verzeihung und um Versöhnung bitten. Dies war immer der notwendige erste Schritt. Und ist es bis heute.

Damals begann ich auch, den Tag der Befreiung als Tat der Befreiung zu verstehen, als Befreiung "von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft", wie Richard von Weizsäcker es 1985 in seiner mutigen Rede zum 8. Mai formulieren sollte. Es ist gut, daß wir mittlerweile gelernt haben, der Kriegsopfer ohne Ansehen der Nation zu gedenken und uns "die Hände über die Gräber hinweg" zu reichen. So kann der Tag der Befreiung immer mehr zu einem Tag der Zukunft werden.

Text und Fotografien © Konrad Weiß 2010-2024