Die politische Debatte um die Asylrechtsänderung in den Jahren 1992/1993 wurde von einem entschlossenen zivilgesellschaftlichen Protest begleitet, der nicht immer gewaltfrei war. Als am 26. Mai 1993 im Bundestag in Bonn abschließend über die Änderung des Grundgesetzes beraten wurde, war es nur durch einen massiven Polizeieinsatz möglich, den Abgeordneten Zutritt zum Bundeshaus zu gewährleisten. Ein schwarzer Block teils Vermummter blockierte auch die Heussallee, wo ich damals wohnte. Aber ich habe es irgendwie durch die Reihen geballter Aggressivität in den Plenarsaal geschafft.
Meinem Kollege Wolfgang Ullmann erging es schlimmer, er wurde angegriffen und leicht verletzt. Andere Abgeordnete mussten mit dem Hubschrauber eingeflogen oder per Schiff über den Rhein zum Plenarsaal gebracht werden. Mein aus dem Iran stammender Mitarbeiter wurde von den "Ausländerfreunden" gleichfalls tätlich angegriffen. Ich selbst wurde ein paar Tage später von einem Autonomen am Europa Center in Berlin angespuckt, weil ich ein Einwanderungsgesetz befürwortet hatte.
Das entschiedene Eintreten der Bundestags-Gruppe Bündnis 90/Die Grünen für die Erhaltung und humanitäre Ausgestaltung des Asylrechts im wiedervereinigten Deutschland war unmittelbar durch die Unrechtserfahrung in der DDR geprägt. Zum Verständnis der damaligen Situation muss daran erinnert werden, dass die westdeutschen Grünen im ersten Bundestag nach der Wiedervereinigung nicht vertreten waren. Hingegen waren acht Abgeordnete des Bündnis 90 und der ostdeutschen Grünen gewählt worden, die eine Fraktionsgemeinschaft bildeten, die Gruppe Bündnis 90/Die Grünen. Ich war zuständig für die Asyl- und Migrationspolitik der Gruppe.
In der DDR hatte es nur ein sehr rudimentäres Asylrecht gegeben; die Asyl- und Ausländerpolitik der SED war ideologisch bestimmt. Zwar kannte bereits die Verfassung der DDR von 1949 das Recht auf Asyl, aber nicht als individuell einklagbares Grundrecht, sondern als Gnadenrecht des Staates. Alles in allem werden es nicht mehr als einige tausend Flüchtlinge gewesen sein, denen in den vierzig Jahren der DDR politisches Asyl gewährt wurde. Für die Bürgerbewegungen der DDR war die Situation von Ausländern und Immigranten Bestandteil ihrer Menschen- und Bürgerrechtspolitik. Auch am Zentralen Runden Tisch konstituierte sich eine eigene Arbeitsgruppe Ausländerfragen, die Leitlinien für die Ausländerpolitik in der DDR erarbeitet hat. Zur ersten Ausländerbeauftragten der DDR wurde damals Almuth Berger ernannt, Pastorin in Berlin und Vertreterin der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt.
Auch die Initiative, ein besonderes Asylrecht in Deutschland für verfolgte Juden zu schaffen, ging von der Bürgerbewegung aus. Dieser Gedanke wurde in die Gemeinsame Erklärung aller Fraktionen der frei gewählten Volkskammer übernommen, die am 12. April 1990 abgegeben wurde. Die Gemeinsame Erklärung wurde durch den Einigungsvertrag fortgeltendes Recht für ganz Deutschland. Somit hat sich die Bundesrepublik auch nach der Wiedervereinigung und angesichts der drohenden Verfolgung von Juden in der zerfallenden Sowjetunion zur großzügigen Aufnahme von jüdischen Asylsuchenden bereitgefunden.
Infolge der revolutionären Veränderungen in Mittel- und Osteuropa, der Bürgerkriege auf dem Balkan und der Not in vielen Ländern Afrikas und Asiens waren Anfang der neunziger Jahre Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Diese Menschen waren in ihrer religiösen oder kulturellen Existenz bedroht, als Minderheiten oder Andersdenkende verfolgt worden. Auch soziale Konflikte, Hunger und Zerstörung der Lebensräume bewegte viele zur Flucht. Es waren die Nachwirkungen des Kolonialismus von gestern ebenso wie die Auswirkungen der ungerechten Weltwirtschaftsordnung unserer Tage.
Da es zur legalen Einwanderung nach Deutschland aber nur den Weg über das politische Asyl bzw. als Kontingentflüchtling gab, wurden alle Zuwanderer, auch wenn sie aus wirtschaftlichen Gründen gekommen waren, ins Asylverfahren gepresst. Die Zahl der unerledigten Fälle stieg dadurch dramatisch. Viele Kommunen waren hoffnungslos überfordert. 1992 kamen 438.000 Asylbewerber, die Anerkennungsquote lag in diesem Jahr aber lediglich bei 4,25%. Ende 1992 lebten 610.000 Asylbewerber in Deutschland, über deren Anträge noch nicht entschieden worden war. Dazu kamen etwa 640.000 Flüchtlinge, die aus humanitären Gründen bleiben konnten.
Anders als die Parteien des Asylkompromisses - CDU/CSU, SPD und F.D.P - sahen wir von der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen eine Lösung aber nicht in der Einschränkung des Asylrechts, sondern in seiner Ergänzung und Ausgestaltung. Ich war - und bin nach wie vor - der Meinung, dass eine Lösung der Probleme auch ohne die Aufgabe des klaren Verfassungsgrundsatzes "Politisch verfolgte genießen Asylrecht" möglich gewesen wäre. Dieser Auffassung waren offensichtlich auch 101 Abgeordnete aus der SPD und sieben Abgeordneten aus der F.D.P., die wie wir im Mai 1993 gegen die Änderung des Grundgesetzes gestimmt haben.
Nach unserer Konzeption sollte es drei legale Möglichkeiten der Zuwanderung in die Bundesrepublik geben: 1. die Gewährung von Asyl gemäß (unverändertem) Artikel 16.2 des Grundgesetzes; 2. eine Regelung für Kontingentflüchtlinge, die auf der Genfer Flüchtlingskonvention beruhen sollte; 3. die Möglichkeit zur legalen Einwanderung für Menschen, die aus wirtschaftlichen oder persönlichen Gründen in Deutschland leben wollen.
Noch in den neunziger Jahren hatten in der Bundesrepublik Deutschland im wesentlichen nur diejenigen einen Rechtsanspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit, die der Abstammung nach Deutsche waren. Die Einbürgerung von Ausländern und Ausländerinnen unterlag weitgehend dem Ermessen der Behörden. Unser Gesetzentwurf vom Februar 1992 sah vor, dass die deutsche Staatsangehörigkeit bei Geburt zuerkannt und ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung mit einem fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland erworben würde. Außerdem hatten wir die Zulassung von doppelter Staatsbürgerschaft als Regelfall vorgesehen.
Das Einwanderungsgesetz schließlich sollte der Tatsache Rechnung tragen, dass Deutschland de facto seit langem ein Einwanderungsland ist. Es sollte Rechtsanspruch und Rechtssicherheit für jene schaffen, die aus familiären oder aus wirtschaftlichen Gründen in Deutschland leben wollen. Damit wäre ein neuer, jedoch durch Quotierung begrenzter Zugang geöffnet und der Artikel 16 unmittelbar entlastet worden. Dies hätte gewährleistet, dass die Zuwanderung unter menschenwürdigen Voraussetzungen und sozial verträglich erfolgt. Zugleich sollte das Gesetz die Niederlassungsbedingungen für Ausländer in Deutschland regeln und die Rechtsgrundlage für Einbürgerung und Integration bilden.
Wir waren uns im klaren, dass ein Einwanderungsgesetz nicht ohne die Festlegung jährlicher Quoten auskommen kann. Dies human und praktikabel zu regeln, ist besonders kompliziert. Unsere Vorstellung war, dass die Entscheidung über die Anzahl der Einwanderer und ihre Herkunftsländer jährlich durch Gesetz zu bestimmen wäre. Wir wollten hierbei also die Entscheidungskompetenz der Legislative stärken. Bei der jährlichen Festlegung der Einwanderungs-Quoten sollten neben den Parlamenten und Regierungen von Bund und Ländern auch Vertreter der Zivilgesellschaft mitwirken.
Unser Entwurf bot pragmatische Lösungen an, die die Interessen von einheimischer und zugewanderter Bevölkerung berücksichtigten und die ausgleichend hätten wirken können. Sie packten konsequent den zentralen Widerspruch der bisherigen Asyl und Ausländerrechtspolitik an: den Widerspruch zwischen der Tatsache, dass Deutschland längst Einwanderungsland war, und dem geltenden Ausländerrecht, das dieses Faktum leugnete.
Mit diesem weitsichtigen und soliden Konzept stand unsere Bundestagsgruppe aber auf ziemlich verlorenem Vorposten. Nicht nur CDU und SPD lehnten unser Konzept ab, sondern auch eine Mehrheit der Grünen. Auf der Bundesversammlung der Grünen in Berlin im Mai 1992 wurde drei Tage lang leidenschaftlich über Asyl- und Einwanderungspolitik gerungen. Unser Vorschlag fand einige Befürworter aus dem realpolitischen Flügel der Grünen. Claudia Roth schaffte es jedoch mit einer schwärmerischen Rede, eine Mehrheit gegen unsere Einwanderungspolitik zu mobilisieren.
Zu fragen ist heute, zwanzig Jahre nach der Änderung des Grundgesetzes, was der damalige Kompromiß von CDU/CSU, SPD und F.D.P. bewirkt hat. Die Ziele der Kompromiß-Koalition von 1992 wurden fraglos erreicht, die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland ist dramatisch zurückgegangen. Die Grundgesetzänderung und das damit verbundenen Instrumentarium machen es seither politisch Verfolgten nahezu unmöglich, in Deutschland Asyl zu finden.
Ich finde das beschämend angesichts der vielen, die als deutsche Flüchtlinge Rettung gesucht hatten vor Deutschland und denen im Ausland Asyl gewährt worden war. Die Perspektive des Artikels 16.2 des Grundgesetzes war, aus eben dieser Erfahrung, die Sicht des Individuums, nicht die des Staates. Das war ein großartiger Fortschritt im europäischen Rechtssystem. Es ist wie ein Verrat an den Asylanten von damals, wenn nun im Jahr 2012 - laut Asylgeschäftsstatistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge - lediglich 740 Menschen in Deutschland Asyl gewährt worden ist.
Auch eine aktive Einwanderungspolitik gibt es noch immer nicht, auch das Zuwanderungsgesetz von 2002 leistet das nicht. Und das zwischen 2000 und Ende 2004 geltende "Sofortprogramm zur Deckung des IT-Fachkräftebedarfs", die Greencard der rotgrünen Bundesregierung, war purer Aktionismus. Dieses Programm war in Wahrheit ein weiteres Abwehrinstrument, nicht aber die Einladung zur Einwanderung nach Deutschland. Es sollte lediglich einen Arbeitskräftemangel ausbügeln helfen.
Und schließlich ist auch ein gemeinsames europäisches Asylrecht noch immer nicht in Sicht. Vielmehr wurde die Politik und Praxis der Abschottung ausgebaut. Die Freiheitsrechte, die in den europäischen Revolutionen von 1989 errungen wurden, gelten heute an den EU-Außengrenzen nur noch bedingt.
Immerhin ist in den zurückliegenden Jahren erreicht worden, dass die Liste der anerkannten Fluchtursachen erweitert und die Definitionen der Genfer Konvention nicht mehr umstritten, sondern ins deutsche Rechtssystem integriert sind. Auch die 1992 bei der Ratifizierung der UN-Kinderkonvention durch die Bundesrepublik ausgesprochenen Vorbehalte wurden 2010 zurückgenommen. Damit ist nun auch bei uns die Rechtsstellung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen verbindlich geregelt. 1992/1993 ist die besondere Schutzbedürftigkeit von Flüchtlingskindern kein Thema während der gesamten Debatte um die Neuregelung des Asylrechtes gewesen. Es ist gut, dass nun in Deutschland wenigstens Flüchtlingskinder uneingeschränkten Schutz genießen.