Rheinischer Merkur, 21.05.1999

Der Zweigträger

Menschen sind wichtiger als Länder

von Konrad Weiß

Ich habe vierzig Jahre lang in dem Deutschland gelebt, das nicht demokratisch war, das von einer Partei, die sich allmächtig dünkte, beherrscht wurde. So wie vordem Kaisers und Führers Geburtstag, wurde der Gründungstag der DDR alljährlich als "Geburtstag der Republik" zelebriert. Rührselige Gedichte wurden dafür geschrieben. Aus den Lautsprechern brüllten Lieder vom sozialistischen Vaterland. Im Herzen Berlins, wo einmal das Schloß gestanden hatte, schepperten Panzerketten und knallten Stiefel auf den Asphalt. Eine Sonderration Apfelsinen wurde verteilt und Orden an die Brust geheftet. Die Leute freuten sich über den arbeitsfreien Tag und spülten mit Feiertagsschnaps den kleinen Ärger und die große Wut hinunter.

Zu den Staatsritualen, die Macht demonstrieren und einschüchtern sollten, gehörte der Große Wachaufzug in der Straße Unter den Linden. Das martialische Tschindarassabum hatte Tradition, wie der Stechschritt, der den Volkssoldaten das Hirn in die Beine treiben sollte. Begeisterte Touristen knipsten den anachronistischen Zug tausendfach. Einmal nun geschah es, daß ein Mann, wohl ein Behinderter, einen welken Zweig ergriff, den der Herbststurm aus den Kastanien hinter der Neuen Wache gebrochen hatte, und Schritt und Gesten des Tambormajors nachäffend, dem Aufmarsch voranzog. Der Zweigträger wurde alsbald von den Bewachern des Wachaufzugs beiseitegedrängt und fortgeführt. Aber der Bann des Rituals war gebrochen - für den, der es miterlebt hat, wohl für immer.

Für immer ist auch mein Verhältnis zu Staatsfeiertagen gestört. Der Staat, das habe ich aus der DDR mitgebracht, soll sich nicht so wichtig nehmen. Auch nicht der demokratische Staat. "Menschen sind wichtiger als Länder", hat mir einmal auf jener Straße Unter den Linden, noch zu DDR-Zeiten, die nordirische Friedensnobelpreisträgerin Mairead Corrigan gesagt. Das hat mir damals geholfen und hilft mir jetzt. Ich weiß, daß ich mich nicht mit einem Staat identifizieren muß, um Mensch, um Bürger zu sein. Kritische Distanz ist für beide besser - für den Bürger und für den Staat.

Das heißt ja nicht, daß ich mich nicht verantwortlich weiß für das Land, in dem ich lebe und dessen Sprache ich spreche. Seine Geschichte, die guten wie die schlimmen Zeiten, seine Landschaften und seine Kultur haben mich geformt und gehören zu mir. Aber blind bin ich nicht. Ich sehe, daß in fünfzig, in zehn Jahren Demokratie manches Feuer erloschen, manche Hoffnung gewelkt und mancher Traum zerstoben ist. Und sehe, daß Neues kommt, das mir oft fremd ist und Angst macht. Diejenigen, die sich 1945 im Westen wie im Osten aufgemacht hatten, ein besseres Deutschland zu bauen, müssen ähnlich empfunden haben wie wir 1989 in der frei und demokratisch werdenden DDR. Im Westen gingen sie den steinigen, trümmerübersäten Weg zum Grundgesetz und zur Demokratie. Im Osten führte sie der Weg zurück in eine neue Diktatur. Dabei unterschieden sich nach der Katastrophe, dessen bin ich mir sicher, weder Hoffnung noch Streben. Viele Texte aus jener Zeit bezeugen das.

1945, aus dem Exil heimgekehrt, hielt der später so häufig geschmähte und der Feigheit geziehene Johannes R. Becher drei Reden zu Deutschlands Erneuerung. In der einen, Deutsches Bekenntnis überschrieben, sagte er:

Wie im religiösen Leben, so gibt es auch im Leben eines Volkes den Begriff der Wandlung. Auch ein ganzes Volk kann sich wandeln, kann anders werden. Zu solch einer Wandlung, zu solch einem Anderswerden sind wir Deutschen wiederum aufgerufen. Dazu bedarf es auch geistiger Auseinandersetzungen, einer weltanschaulichen, nationalen Klärung und Selbstverständigung, wobei wir das uns Trennende nicht verschweigen, aber es fruchtbar machen wollen im Interesse des großen gemeinsamen Ganzen. Und das wäre zudem schon ein wesentlicher Teil echter Demokratie.

Ich zweifle nicht an der Aufrichtigkeit solcher Worte. Daß aber der Wille zur Wandlung, zum demokratischen Neubeginn in dem einen Teil Deutschlands so mißbraucht und mißachtet worden ist, ist die Tragik jener Aufbaugeneration. Aber wer darf denen, die eben einer Diktatur entronnen waren, den Vorwurf machen, daß sie alsbald wieder mit Angst und Blindheit geschlagen waren? Diejenigen, die es auf die bessere Seite verschlagen hatte, sicher nicht. Denn es hat auch, trotz des Terrors, tausendfachen Widerstand und hunderttausendfache Flucht gegeben, die oft genug nichts anderes als verzweifelter Widerspruch war. So muß, wenn ein halbes Jahrhundert Demokratie in Deutschland gefeiert wird, auch derer gedacht werden, die ein demokratisches Deutschland ersehnt haben, denen es aber verwehrt geblieben ist.

Auch ihnen ist es zu danken, daß in der DDR, wie verschüttet auch immer, eine Sehnsucht nach dem demokratischen und einigen Land lebendig blieb. Bechers Reden, auf die ich Ende der siebziger Jahre in einem Ostberliner Antiquariat stieß, haben mir jedenfalls geholfen, mich von der Vorstellung zu lösen, daß die Zweistaatlichkeit Deutschlands dauerhaft und segensreich für Europa sei - eine Lehrmeinung, die auch in der Bundesrepublik so selten nicht war. Die Einheit war wirklich nicht nur den Bananen geschuldet, wie der hochmütige Herr Schily, der jetzt Bundesminister ist, seinerzeit meinte.

Wenn eine Demokratie fünfzig Jahre alt geworden ist, dann ist sie gealtert. Die heilsame Wirkung des Jungbrunnens, der ihr durch die friedliche Revolution der Ostdeutschen geschenkt worden war, hat längst nachgelassen. Gemeinhin erinnert man einen Jubilar nicht an seine Schwäche, womöglich an seine Hinfälligkeit. Gilt das auch für ein Jubiläumsland?

Die Deutschen müssen besorgt sein, daß ihr Land ein gutes Land bleibt und ein besseres wird. Wir gehen, scheint mir, zu leichtfertig mit unserer Demokratie um. Der Staat ist selbstherrlich geworden. Seine Bürger haben vergessen, daß sie der Souverän im Lande sind, und lassen den Parteien, die sich den Staat zur Beute genommen haben, allzuviel Macht. Bürgerrechte, mühsam errungen, werden beschränkt oder aufgegeben. Freiheit wird dem Verlangen nach Sicherheit - Bedürfnis der Bürger oder Angst des Staates? - geopfert. Wer in Unfreiheit gelebt hat weiß, daß es Freiheit ohne Risiko nicht gibt.

Viele Grundrechte, die eigentlich unantastbar sein sollten, wurden in den letzten zehn Jahren aufgegeben oder doch unsäglich entstellt: Das Menschenrecht auf Asyl, die Unantastbarkeit der Wohnung, das Post- und Fernmeldegeheimnis, der Schutz des Eigentums. Die Zügel werden immer nur angezogen, nie gelockert. In Berlin wurde das Haus der Demokratie, der Reichstag, zur ersten Sitzung der Bundestages mit einer weitläufigen Bannmeile belegt. Ein Abgeordneter der Grünen wagte sich nur unter Polizeischutz in eine brandenburgische Schulklasse. Der Staat erobert immer neues Terrain. "Wer schützt uns vor den schutzbedürftigen Vaterländern?", spottete vor fünfundsechzig Jahren ein Kolumnist der "Prager Volkszeitung". Wenn die Vaterländer sich vor ihren Bürgerinnen und Bürgern so schützen, wie es heute geschieht, dann, so fürchte ich, ist unsere Demokratie ernsthaft in Gefahr. Mir scheint, das Land braucht wieder Zweigträger wie jenen, von dem ich eingangs erzählte...

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