Rede im Deutschen Bundestag am 25. Februar 1994

Verhüllter Reichstag

von Konrad Weiß

Etliche Kommentatoren stellten in den letzten Tagen die Frage, ob denn das deutsche Parlament nichts sinnvolleres zu tun habe, als sich mit Christos Verhüllung des Reichstages zu befassen. Natürlich haben wir anderes zu tun, und das tun wir ja auch. Aber ist es nicht eine der Ursachen der allgemeinen Ödnis, der Oberflächlichkeit, der Sinnleere, daß Menschen es nur selten noch lernen, durch eigene Kreativität oder durch die Auseinandersetzung mit der Kunst zu sich selbst zu finden? Kunst ist mehr als Kommerz oder Unterhaltung, sie befreit, weitet den Blick, bereichert das Leben, sie orientiert und hilft, den Sinn des eigenen Lebens zu finden. Es ist wahrlich keine Schande und keine verlorene Zeit, wenn einmal auch die Parlamentarier in diesem Hohen Haus über ein Kunstwerk nachdenken und sprechen.

Durch diesen Prozeß werden wir selbst Teil des Kunstwerkes, das Christo mit bewunderungswürdiger Hartnäckigkeit und Gestaltungskraft seit vielen Jahren erschafft. Nur selten gelingt es einem Künstler, einen so breiten Diskurs auszulösen, dazu braucht es schon die Professionalität und Überzeugungskunst Christos. Diese soziale Komponente seines Werkes kann nicht hoch genug geschätzt werden. Wie langweilig dagegen ist alles, was nicht zum Widerspruch oder zum Fragen reizt. Glatte Eintönigkeit gibt es wahrlich genug.

Die Verhüllung des Reichstages ermöglicht es uns, diesen zentralen und ambivalenten Ort deutscher Geschichte in anderem Licht zu sehen und sinnlich neu zu erfahren. Die Verhüllung ist keine Entwürdigung, sie ist ein Ausdruck der Ehrfurcht und schafft Freiraum zur Besinnung auf das Wesentliche. In der katholischen Liturgie wird in der Karwoche das Kreuz verhüllt, um dann am Höhepunkt des Karfreitags feierlich enthüllt zu werden. In der jüdischen Tradition sind es die Thorarollen, die verhüllt werden, um immer daran zu erinnern, wie kostbar das ist, was sie bergen.

Der Reichstag wird durch Christos Verhüllung nicht entweiht, er wird geadelt - so merkwürdig das für ein Haus der Demokratie auch klingen mag. Er wird hervorgehoben als ein besonderer Ort, ganz einmalig und unvergleichbar. Durch die Verhüllung wird unsere Erinnerung an das, was in und mit diesem Haus geschehen ist, an die Schaffung, den Untergang und die Wiedergeburt der Demokratie, belebt. Die Verhüllung ist Erinnerungsarbeit. Und nichts anders kann unsere Auseinandersetzung mit der Geschichte doch sein: Daß wir uns ein Bild machen von dem, was sich unter den Ablagerungen der Zeit an gewesener Wirklichkeit verbirgt. Die Verhüllung des Reichstages wird uns an die Begrenztheit unserer Wahrnehmung erinnern und daran, wie ungewiß unsere Erkenntnis ist.

Und das ist die Vision: Der Stein des Reichstages wird eine Zeit lang unseren Blicken verborgen. Was bleibt, ist die Form unter dem weich fallenden Stoff, die veränderte, verfremdete Gestalt. Was wir wirklich sehen werden, können auch Christos Zeichnungen nur andeuten. Aber es wird neu und es wird vergänglich sein. Es wird ein Einschnitt sein in die Geschichte dieses Hauses, und anders als der Brand vor einem halben Jahrhundert, wird es eine friedliche, eine schöpferische Zäsur sein. Der weiche Stoff, der den Reichstag umhüllt, wird uns an die Flammen gemahnen, die aus diesen Mauern schlugen, und daran, wie verletzlich und gefährdet die Demokratie ist. Die Enthüllung schließlich ist das Symbol für die Wiedergeburt der Demokratie, für den Aufbruch unseres Landes, das mit der Wiedervereinigung ein neues Land werden sollte.

Ich wünsche uns, daß wir den Mut finden, uns der kreativen Provokation dieser symbolischen Verhüllung zu stellen. Daß wir Mut zeigen zur ironischen Distanz zu uns selbst und zugleich zur verantwortlichen Integration unserer Geschichte, mit all ihren Höhen und Tiefen, mit allem Guten und Schlimmen, wofür dieser Reichstag steht. Die Abgeordneten der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen wollen sich dieser Herausforderung stellen und stimmen Christos Projekt zu.

© Konrad Weiß 1994-2024