Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Dezember 1994

Schwarz Grün Gold

Manche ändern sich, manche müssen noch

von Konrad Weiß

Die Reaktion hätte drastischer nicht sein können. Nach der Wahlniederlage der Grünen in Sachsen bekam Werner Schulz, Bundestagsabgeordneter aus Leipzig, von den Parteifreunden ein Trauergebinde überreicht: Grüne Tanne, schwarze Schleife, weiße Totenblumen. Schulz hatte die Todsünde begangen, vor den sächsischen Landtagswahlen öffentlich über eine Koalition aus Bündnis 90/Die Grünen und CDU nachzudenken. Ach, wie heulten da die grünen Glaubenswächter auf! Sie zitierten den Abtrünnigen herbei und unterzogen ihn einer peinlichen Gewissensprüfung. Fast wäre Schulz für unwürdig befunden worden, erneut für den Bundestag zu kandidieren. Weil sich aber die Mullahs damit nicht hatten durchsetzen können, rächten sie sich nach den Wahlen mit jener bösartigen Allegorie. Schwarzgrün wurde, vorerst jedenfalls, zu Grabe getragen.

Die Wahl Antje Vollmers zur Vizepräsidentin des Bundestages und die warmherzige Aufmerksamkeit, die Joschka Fischers Comeback beim Bundeskanzler fand, brachten Schwarzgrün erneut ins Gespräch und die Gralshüter in Erregung. Man könnte meinen, liest man Peter Gauweiler oder die taz, die schwarzgrüne Katastrophe sei schon übers liebe Vaterland respektive die BRD hereingebrochen. Gemach, gemach. So hurtig sind die Parteivölker nicht. Aber manches im Verhältnis der beiden Parteien ist dabei sich zu verändern, oder besser: ganz einfach normal zu werden. Eine Koalition ist das noch lange nicht, schon gar nicht in Bonn. Schwarzgrün ist noch immer ein utopisches Sujet. Letztlich ist es die Dürftigkeit der F.D.P., die gegenwärtig die schwarzgrünen Träume haussieren läßt.

Interessanter als die taktischen Züge von Fischer und Schäuble, die viel zu durchschaubar sind, um spannend zu sein, sind die langfristigen Veränderungen, die Schwarzgrün den Boden bereiten. Das Wichtigste ist, daß durch die Vereinigung mit dem Bündnis 90 die Grünen dabei sind, eine andere Partei zu werden, pragmatisch und wertorientiert. Die Achtundsechziger sind auf die Neunundachtziger getroffen, die sozialistische Fiktion auf die sozialistische Realität. Die Ökologiebewegung ist mit der Bürgerbewegung verschmolzen, Demokratie und Menschenrechte sind zentrale Themen geworden, eine natürliche, gesunde Umwelt ist ein Menschenrecht unter anderen, nicht mehr und nicht weniger. Natürlich vollzieht sich der Wandel nicht ohne Brüche und ohne Verwerfungen, auch nicht ohne politische Rauferei. Auf beiden Seiten muß Abschied genommen werden von tief verinnerlichten Anschauungen und Haltungen, von eingefleischten Vorurteilen. Das ist schmerzlich und mühevoll, nicht jeder wird sich auf diesen Weg begeben. Aber allein die Öffnung macht zukunftsfähig. Ökologische Monokultur oder erneuter sozialistischer Fundamentalismus brächten die Grünen alsbald wieder unter die fünf Prozent.

Der Deal zwischen Schwarz und Grün im Bundestag, der die SPD empfindlich getroffen hat, ist nicht so spontan zustande gekommen, wie es scheinen mag. Mit dem Ausscheiden der Grünen und dem Einzug der kleinen Gruppe vom Bündnis 90 in das Parlament hatte es eine deutliche Klimaveränderung gegeben. Das mag auch daran gelegen haben, daß das Verhältnis zwischen Bündnis 90 und CDU ohne Vorbelastung und deshalb unbefangener war. Auch das andere Politikverständnis der Ostdeutschen, ihre größere Bereitschaft zum Konsens, die Konzentration auf das Notwendige und Machbare und der weitgehende Verzicht auf bloß ideologische Gefechte haben das Terrain bereitet. Natürlich gab und gibt es in vielen Fragen einen gravierenden Dissens, das darf man nicht klein reden. Aber das war und ist mit der SPD nicht anders. In der Einwanderungspolitik, im Asylrecht, in vielen wirtschaftlichen und sozialen Fragen hat die SPD ja längst die Große Koalition praktiziert. Und seit Hans-Ulrich Klose Fraktionsvorsitzender war, hat es so gut wie keine parlamentarische Zusammenarbeit zwischen dem Bündnis 90/Die Grünen und der SPD gegeben. Ich habe nie verstanden, warum sich der grüne Bundesvorstand ausgerechnet dieser SPD so begierig in die Arme werfen wollte.

Schwerwiegender noch als die programmatische Divergenz zwischen CDU und Bündnis 90/Die Grünen scheint mir die Kluft in den Milieus zu sein, die beide Parteien trennt. Eigentlich aber sind sie sich näher, als sie es sich eingestehen wollen. Die achtundsechziger Bewegung, aus der viele Grünen kommen, war ja im Kern Protest gegen die Bürgerlichkeit der Eltern. Frisch Bekehrte neigen immer zum Übertreiben. So auch die Grünen mit ihrer Polit-Liturgie und dem bis zur Karikatur Andersseinwollen. Das hat sich zwar abgeschliffen, aber romantische Relikte finden sich immer noch. So, als die neue Bundestagsfraktion sich nostalgisch mit Sonnenblumen dekoriert präsentierte - sie kamen mir vor wie Abiturienten, die mit dem Teddybären im Arm zur Matura komme. Oder als die Abgeordneten die Antiatomkraft-Uniform aus dem Spind holten und sie im Plenarsaal überstreiften. Alles Rituale, die mit der ostdeutschen Bundestagsgruppe nicht zu machen waren. Offenbar aber werden die lieben altgrünen Traditionen fürs alternative Selbstwertgefühl gebraucht. Das hat auch im Osten Epigonen gefunden.

Das Komische ist nur, so alternativ die Bräuche scheinen, so bürgerlich sind sie im Kern geblieben. Proletarischen Adel, den man in der SPD hin und wieder noch antrifft, und der letztlich diese Partei geprägt und unverwechselbar gemacht hat, findet man weder im Bündnis 90 noch bei den Grünen. In der DDR wurde alles Bourgeoise ausgerottet, vierzig Jahre Kulturkampf haben tiefe, schmerzliche Spuren hinterlassen. Zugrunde gegangen ist aber auch das Proletarische, vor allem wohl, weil man es so erbarmungslos benutzt und malträtiert hat. Herausgekommen ist ein merkwürdig amorphes und bleiches Kleinbügertum, von dem auch Intellektuelle nicht verschont geblieben sind. Dessen neue Heimstatt sind CDU und PDS, aber auch im Bündnis 90 tummelt es sich. Tragisch ist, daß Bildung und Manieren eine Rarität geworden sind, und das, habe ich lernen müssen, gilt auch für den Westen.

Ich glaube nicht, daß die Achtundsechziger den Marsch durch die Institutionen bewältigt haben, ohne Schaden zu nehmen, daß sie sich und ihren Träumen treu geblieben sind. Ihre Kinder jedenfalls sind den Großeltern seltsam ähnlich, ähnlicher, als den Eltern lieb sein kann. Im Schwarzgrünen würden zwei politische Generationen, die einen gemeinsamen Ursprung haben, aufeinander treffen. Der Konflikt scheint programmiert. Vielleicht aber sind die Kämpfe ja ausgestanden, ist der Vatermord bereut und verziehen. Es sind jedenfalls keine grünen Kommunarden, die in den Parlamenten arbeiten, sondern Frauen und Männer, die etwas verändern, die das Land reformieren wollen. Sie müssen sich und den Eltern nicht immer aufs neue beweisen, daß sie anders und besser sind. Sie könnten endlich gelassen Politik machen, hoffentlich sind sie dafür leidenschaftlich und weise genug.

Der CDU wird der notwendige Wandel schwerer fallen. Die geistig-moralische Wende, zu der sie vor anderthalb Jahrzehnten angetreten ist, hat nicht stattgefunden. Die Herbstwende des Jahres 1989 hat die Partei zur Konsolidierung, nicht zur Erneuerung genutzt. Die neunziger Jahre sind für die CDU, trotz der Dynamik der Wiedervereinigung, zur Periode der Stagnation geworden. Die Partei lechzt geradezu nach frischen Gedanken und originellen Ideen. Das Programm wurde zwar behutsam entstaubt, aber nun muß auch die Politik modernisiert werden. Ein Zukunftsministerium, in dem Chips mit der Laubsäge gebastelt und Datenautobahnen asphaltiert werden, nutzt dem Land wenig. Ein Chef, der seinen Juniorpartnern Handlangerdienste statt Verantwortung überträgt, ruiniert den eigenen Laden.

Bündnis 90/Die Grünen könnte für diese CDU eine heilsame Herausforderung sein, etwas, was die F.D.P. längst nicht mehr ist. Es gibt genug unverbrauchte und originäre Köpfe in der CDU, die auf ihre Stunde warten. Schwarz-Grün würde ihnen das Coming-out leichter machen. Nicht erst seit diesem Herbst wird in der Union manches gefordert, was bei den Grünen zum Standardrepertoire gehört. Die Frauenquote bietet dafür ein treffliches Exempel. Studententheater oder pures Lebensgefühl, wie Peter Gauweiler argwöhnt, ist das nicht. Es ist auch kein hemmungsloser Modernismus, sondern der verzweifelte Versuch, diese Gesellschaft zukunftsfähig zu machen, sie auf Werte zu orientieren, die abhanden gekommen sind. Die Grünen sind darin mehr, als sie es selbst wahrhaben wollen, konservativ. Den Zustand dieser Gesellschaft allein den Grünen anzulasten, ist absurd. Nicht sie, die Unionsparteien tragen Regierungsverantwortung. Verantwortlich für unser Land aber sind wir gemeinsam, für das Gute wie für das Böse. Es ist töricht, die eine Partei den Engeln zuzuzählen, die andere aber den Teufeln.

Und was es soll es, die uralten Kamellen Startbahn West oder Wackersdorf auszukramen: Das Bündnis 90/Die Grünen ist eine andere Partei. Zur Tradition dieser Partei gehört nun auch der gewaltlose Widerstand gegen den totalitären Terror der Kommunisten und die Brechung des Führungsanspruches der SED. Joschka Fischer auf den Spuren Honeckers zu sehen, ist schlichtweg bajuwarischer Unsinn. Selbst linke Aktivisten haben nach dem Zusammenbruch der DDR ihr Weltbild revidiert. Im übrigen dürfte nach der Absorption der Blockgenossen der Anteil an bekennenden Marxisten in der Union um ein vielfaches höher sein als bei den Grünen. Die Zeiten haben sich wirklich geändert.

Schwarz-Grün wird keine Zukunft haben, wenn man sich gegenseitig auf die Mülldeponie der Vorurteile verbannt. Natürlich läßt sich mühelos ein Katalog der Unvereinbarkeiten zusammentragen. Das haben beide Parteien bislang wacker getan. Aber ist es nicht sinnvoller, mit biblischer Sorgfalt nach Gemeinsamkeiten zu suchen wie nach der verlorenen Drachme? Ein Blick in die Programme beider Parteien offenbart mehr Nähe, als man angesichts des politischen Handelns erwarten sollte. Wenn beide ihr Programm ernstnehmen, sollte einer schwarz-grünen Liaison wenig entgegenstehen. Ich bin mir sicher, daß der Versuch noch vor der Jahrtausendwende in einem Bundesland gewagt werden wird, vielleicht in Sachsen oder in Baden-Württemberg. Aber bis Schwarz und Grün Deutschlands goldene Farben sein werden, ist es noch ein weiter und dorniger Weg.

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