Deutschlandradio Berlin, Politisches Feuilleton, 10.04.1999

Verdrängt und vergessen

Schwierigkeiten beim Umgang mit der Geschichte

von Konrad Weiß

Gerhard Schröder, so weiß die Legende, stand einst am Zaun des Bundeskanzleramts in Bonn und rief: Hier will ich rein. Dreißig Jahre später, als der Zaunrüttler sein Programm verwirklicht hatte, stand er am Fenster des künftigen Berliner Amtssitzes und rief: Der muß weg. Was ihn störte, war der Palast der Republik. Der sozialdemokratische Kanzler wünschte sich einen hübscheren Ausblick, zum Beispiel ein Schloß, wen wundert's.

Das gab jenen Auftrieb, die am liebsten die dunklen Seiten der deutschen Geschichte übertünchen möchten. So als könne der Neubau des Berliner Stadtschlosses die Zerstörung durch die erste und den Abriß durch die zweite deutsche Diktatur ungeschehen machen. Doch was da entstände, und wäre es technisch noch so perfekt und dem Auge des Kanzlers wohlgefällig - es wäre immer nur ein gigantischer Abklatsch, eine geschichtslose Hülle, ein Disneyschloß. Nun, das kuriose Vorhaben wird hoffentlich am Geld scheitern. Aber sicher bin ich mir dessen nicht.

Denn es mangelt uns Deutschen vor allem an einem: an der kritischen Aneignung unserer Geschichte, die bitter genug ist und Unbefangenheit nicht zuläßt. Der Neubau des Schlosses wäre jedenfalls eine besonders bizarre Form der Verdrängung. Doch im Verdrängen sind die Deutschen ja Meister. So auch jüngst bei der atemberaubenden Namensgebung für den Reichstag, für den der Bonner Ältestenrat die Bezeichnung "Plenarbereich Reichstagsgebäude" erdachte. Hat denn dort jemand ernsthaft geglaubt, aus dem Bundestag könne mit dem Umzug nach Berlin der Reichstag werden, nur weil das Gebäude, in dem er dann tagt, so heißt?

Ich bin mir sicher, die Berliner werden geschichtsbewußter sein als die Parlamentarier und das Haus weiterhin Reichstag nennen. Der Reichstag gehört nun einmal zu unserer Geschichte, mit allen düsteren Erinnerungen, die er weckt. Doch auch mit dem Wissen, daß es in diesem Haus Parlamentarier gegeben hat, die der totalitären Gewalt tapfer widerstanden haben. 200 Reichstagsabgeordnete waren im Konzentrationslager, 90 wurden ermordet, 170 sind emigriert. Ihnen allen würde man Unrecht tun, wenn man das Wort "Reichstag" verbannt.


Abriß des Palastes der Republik im August 2008 © Konrad Weiß     Abriß des Plenarbereichs des Palastes der Republik im August 2008 © Konrad Weiß
Abriß des Palastes der Republik, Aufnahmen vom August 2008

Doch zurück zum Berliner Schloßplatz, wo der Sozialdemokrat Schröder ein Schloß bauen möchte und dafür ein Haus der Demokratie schleifen lassen will. Dieser Kanzler hat kein Gedächtnis: Der Palast der Republik war nicht nur die Jubelhalle der SED. Er war, so häßlich er ist, der Ort, an dem das erste Parlament tagte, das aus einer erfolgreichen Revolution der Deutschen hervorgegangen ist. Fünfunddreißigmal, von April bis September 1990, versammelte sich dort die frei gewählte Volkskammer der DDR. Dort wurde die zweite deutsche Diktatur endgültig zu Grabe getragen, wurden die Weichen gestellt für den demokratischen Aufbau Ostdeutschlands, für die Wiedervereinigung.

Die letzten beiden Plenartagungen der Volkskammer allerdings fanden schon nicht mehr im Palast der Republik statt, wegen der unzumutbaren Asbestverseuchung, wie es hieß. Mir war schon damals klar, daß dies ein Vorwand war. Niemand wäre durch zwei weitere Sitzungen zu Schaden gekommen. Die Legende sollte zerstört werden, das Gedächtnis daran, daß die Deutschen in der DDR, anders als die Westdeutschen, ihre Demokratie der eigenen Kraft, der erfolgreichen friedlichen Revolution zu danken haben. Nicht zufällig ist das Jahr 1990 weitgehend dem Vergessen anheimgefallen, diese Zeit des Aufbruchs, der kühnen Alternativen. Dabei war gerade das doch die wirkliche DDR, eine deutsche demokratische Republik, geschaffen von ihren Bürgerinnen und Bürgern, nicht von Besatzern. Dieses halbe Jahr deutscher Geschichte war wesentlicher als manches Jahrzehnt zuvor. Doch die Erinnerung an Alternativen beunruhigt nur.

Reißt die Paulskirche ein, schleift die Wartburg, sprengt den Palast der Republik! Es wäre nicht das erstemal, daß deutsche Geschichte so entsorgt werden soll. Die sozialistischen Despoten haben das Berliner Stadtschloß, die Potsdamer Garnisonskirche, die Leipziger Universitätskirche barbarisch vom Erdboden getilgt. Aber sie konnten nicht verhindern, daß diese Orte zu Mahnmalen und zum Symbol ihrer Schande wurden und zuletzt ihre Zerstörer überlebten. Auch das Haus der Republik, dieser wichtige Ort der deutschen Demokratiegeschichte, würde so überdauern. Und auch als das Symbol einer Schande.

Text und Fotografien © Konrad Weiß 1999-2024