Deutschlandradio Berlin, Politisches Feuilleton, 13.01.1999

Die Opfer sind wichtiger als die Täter

von Konrad Weiß

In der DDR gehörten Amnestien zu allen Jubelfesten. Regelmäßig wurden die Gefängnisse dann von den Landeskindern entleert, die sich nicht in den Westen verkaufen ließen. Eine winzige Kneipe in einem S-Bahn-Bogen am Alexanderplatz galt als markanter Treffpunkt, wo sich entlassene Strafgefangene zu ihrem ersten Bier draußen verabredeten. Hatte es eine Amnestie gegeben, quoll das Kneipchen vor Taschendieben, Totschlägern, Zuhältern und Asozialen, wie das in der DDR hieß, über. Die unbescholtenen Stammgäste hatten dann Mühe, an ihr Bier zu kommen.

Doch für die Amnestie, die nun von der PDS und ihren Nachbetern lautstark verlangt wird, würde die Kneipe allemal ausreichen. Gerademal zweiundzwanzig SED-Verbrecher sind nach der Wiedervereinigung zu Haftstrafen verurteilt worden, zweiundzwanzig von allen, die in der DDR Menschen gequält und erniedrigt, gefoltert oder an der Mauer erschossen haben, die ihre Macht mißbraucht oder sich auf Kosten aller bereichert haben. Fast alle sind längst wieder auf freiem Fuß. Insgesamt wurden 211 ehemalige DDR-Bürger verurteilt, die meisten kamen mit Geld- oder Bewährungsstrafen davon. Über zwanzigtausend Verfahren wurden eingestellt.

1989, in der friedlichen Revolution, war es der einmütige Wille der DDR-Bevölkerung, daß die Schergen des totalitären Sozialismus, die Menschen wie Dreck behandelt haben, nicht ungeschoren davonkommen sollten. Hunderttausende sind damals mit der Forderung nach Bestrafung von Amtsmißbrauch, Korruption, Verrat und Regierungs-Verbrechen auf die Straße gegangen. Der Auftrag, das SED-Unrecht auch nach dem Ende der DDR strafrechtlich zu verfolgen, ist der gesamtdeutschen Justiz von der frei gewählten Volkskammer übertragen worden.

Jene 211 DDR-Bürger, die seit der Wiedervereinigung verurteilt worden sind, hatten sich ausschließlich nach den Gesetzen zu verantworten, die in der DDR galten. Dabei ist immer nur die persönliche Schuld bemessen worden. Niemand wurde wegen seiner Funktion oder wegen der Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation verurteilt. Die meisten dieser Straftaten verjähren ohnehin im nächsten Jahr. Nur Mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit können danach noch verfolgt werden.

Was also bezwecken jene, die so andauernd eine Amnestie fordern?

Dem Rechtsfrieden dient eine Amnestie nicht. Begnadigt werden kann nur, wer verurteilt ist. Der Verurteilung geht immer die Auseinandersetzung mit der Schuld voraus, und, im besten Falle, die Einsicht und die Reue des Täters. Die Amnestie von ungesühnt gebliebener Schuld hingegen beleidigt die Opfer und stiehlt den Tätern die Gnade, ihre Schuld zu erkennen und zu bereuen. Sie verletzt den Rechtsfrieden zutiefst und stört das Gemeinwesen. Sie ist ein Akt der Willkür, nicht der Gerechtigkeit.

Erst recht fragwürdig wäre eine Amnestie, wenn sie, wie vom Fraktionsvorsitzenden der PDS erklärt, der "Aussöhnung zwischen Ost- und Westdeutschen" dienen soll. Daß sich der Rechtsanwalt Gysi, über dessen Mandanten der Staatssicherheitsdienst alles wußte, persönlich eine Amnestie herbeiwünscht, mag verständlich sein. Aber daß eine Amnestie der Aussöhnung zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen diene, ist eine dreiste Propagandalüge. Hier geht es ausschließlich um DDR-Vergangenheit: Um die Täter, die Handlager des totalitären Regimes, auf der einen Seite. Und auf der anderen um die unbescholtene Mehrheit der DDR-Bürger, die manchmal Opfer, manchmal Helden, häufig Mitläufer waren - aber die weder ihre Mitbürger verraten noch gequält oder getötet haben. Für sie, die Mehrheit der Ostdeutschen, ist Gysis Amnestie-Verlangen eine Beleidigung.

Vor allem aber: Die Opfer sind wichtiger als die Täter. Das ist und bleibt das entscheidende Argument. Eine Amnestie, wie sie gefordert wird, wäre eine Mißachtung und Verhöhnung der Opfer. Es genügt eben nicht, das Unrecht, das durch den SED-Staat geschehen ist, halbherzig zu bedauern. Die Leiden der Opfer müssen geheilt oder doch gelindert werden. Sie zuerst haben einen Anspruch auf Entschädigung und Wiedergutmachung, auf Mitgefühl und Hilfe, nicht die Täter. Den Opfern des totalitären Sozialismus Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, das ist die Aufgabe aller Demokraten.

Es ist nicht zufällig, daß die PDS hingegen die lautstarke Lobby der Täter ist. Es gehört zum Mechanismus totaler Herrschaftssysteme, daß den Systemträgern Menschlichkeit, Mitgefühl und Anstand systematisch ausgetrieben werden. Menschliche Regungen wie Reue und Scham oder Respekt vor dem Leid der Opfer gehen verloren. Die freche Anmaßung, für ungesühnte Schuld Amnestie zu fordern, offenbart das heillose Ausmaß der Deformation.

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