Wie ein offenes Buch - Aus der Vergangenheit lernen

Aus einem Vortrag beim Politischen Bildungsforum Sachsen der Konrad-Adenauer-Stiftung am 3. Dezember 2019 in Dresden

von Konrad Weiß

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Daß die Erinnerung verblaßt oder geschönt wird, ist das eine. Etwas anderes aber ist es, wenn die Vergangenheit vergraben und verleugnet wird. Denn dann sind die Erfahrungen und Erkenntnisse, die Freude und das Leid, die Gesichter und Worte von gestern auch für das Heute verloren. Ich muß gestehen, daß ich, je älter ich werde, es immer weniger ertrage, wenn sich Menschen als unfähig oder nicht willens erweisen, aus der Vergangenheit zu lernen.

Die Vergangenheit, zumindest die der letzten hundert Jahre, liegt doch wie ein offenes Buch vor uns. Sie wurde und wird bis ins letzte Detail erforscht, dokumentiert, analysiert, beschrieben und erzählt. Wir wissen um die schrecklichen Folgen der menschenfeindlichen Irrlehren des 20, Jahrhunderts: des Kommunismus und des Nationalismus in ihren unterschiedlichen Ausformungen. Allen gemeinsam war die Gottlosigkeit und die Mißachtung des Menschen. Auf die Altäre wurden Abgötter gestellt: die angeblich überlegene Rasse, die vermeintlich führende Klasse, die Volksgemeinschaft, das Kollektiv, der Fortschritt, das Geld und sonstige Diktatoren jedweder Couleur. Das Recht des Menschen wurde mit Füßen getreten. Es ist ein so mühsamer Prozeß gewesen, bis die Menschheit erkannt und anerkannt hat, daß alle Menschen gleich sind an Würde und Rechten.

Daß nach der Friedlichen Revolution alsbald wieder so viele denen nachgelaufen sind, die sie zuvor entmündigt und unterdrückt und eingesperrt hatten, habe ich nie verstanden. Die SED hatte sich im Dezember 1989 über Nacht in PDS umbenannt, aus totalitären Kommunisten waren am nächsten Morgen demokratische Sozialisten geworden. Solche Massenbekehrungen sind mir immer suspekt. Man trennte sich von einigen Anführern und vielen Mitläufern, und zähnknirschend auch von einigem Vermögen. Doch jene, die unter der SED gelitten hatten, wurden mit wohlfeilen Entschuldigungen abgespeist, aber nicht entschädigt. Es wurde nicht einmal der Versuch gemacht, etwas wieder gutzumachen oder zu heilen. Darum hat sich dann der demokratische Staat gekümmert. Die PDS hingegen kämpfte hingebungsvoll für auskömmliche Renten für ihre Funktionäre und die Täter des SED-Regimes. Das alles geschah nicht im Geheimen, jeder konnte es sehen - und dennoch wurden und werden diese Leute immer und immer wieder gewählt. Man möchte verzweifeln angesichts solcher kollektiven Amnesie.

Zu den Leistungen der Ostdeutschen gehört auch, daß sich viele von ihnen, oft gegen den Willen SED, um Aussöhnung mit den Nachbarn bemüht haben. Dieses vielfältige bürgerschaftliche Engagement gehört zu unserer Tradition, nicht die dumpfe Deutschtümelei. Daran müssen wir uns gerade jetzt erinnern.

Ich bin in meinem Leben immer wieder Menschen begegnet, die mich nachdenklich gemacht und mir geholfen haben, einen eigenen Weg zu finden. Dazu gehört die polnische Publizistin Anna Morawska, die ich 1965 in Krakau kennengelernt habe. Damals gehörte ich zur ersten Gruppe junger Deutscher, die mit der Aktion Sühnezeichen in Auschwitz gearbeitet haben. Anna Morawska hatte mit uns gesprochen und in ihrem Essay Die Psychologie des Friedens über diese Begegnung geschrieben. Sie hatte die jungen Deutschen Realisten genannt, die versuchen, die ganze Wahrheit in sich aufzunehmen, wie diese auch sein möge. Und die im Namen ihres Volkes versuchen, Verantwortung auf sich zu nehmen. - Anna Morawska:

Eine reale Politik schließt in sich die Meinungsverschiedenheit nicht aus. Ihr Wert liegt vielmehr darin, daß sie auf diese vorbereitet. Das Zeichen der Hoffnung, das diese Aktion Sühnezeichen ist, spricht also nicht zu uns: Es gibt da in Deutschland Leute, die ein Rezept für eine ewige Konfliktlosigkeit gefunden haben. Es ist eine bessere, weil wahrscheinlichere Botschaft, die lautet: Es gibt da Menschen, die scheinen aufrichtig zu glauben, daß man über Meinungsverschiedenheiten sprechen muß, loyal und im Geiste der Wahrheit beider Seiten. Die begriffen haben, daß das deutsche Volk ausbrechen muß aus dem Zirkel seines mißverstandenen Strebens nach Selbsterhaltung, dem ständigen und unberechenbaren Pendeln zwischen Passivität und Aggression. Und die verstanden haben, daß sorgloses Schweigen heute wie vordem eine Schuld ist.(1)

Soweit Anna Morawska vor über fünfzig Jahren.


Pilgergruppe von Aktion Sühnezeichen 1964 © Konrad Weiss 1964
Pilgergruppe von Aktion Sühnezeichen 1964

Heute scheint mir, daß mehr und mehr Deutsche wieder gefangen sind in diesem Zirkel des Schweigens und Verschweigens, der Passivität und Aggression. Immer irrationaler, immer verantwortungsloser wird der Umgang mit der Vergangenheit. Eine langsame, aber stetige Veränderung hin zu totalitärem Denken ist spürbar. Unsere Sprache ist ein Seismograph für solche Prozesse. Vieles, was der Dresdner Sprachwissenschaftler Victor Klemperer zwischen 1933 und 1945 als Lingua Tertii Imperii, als Sprache des Dritten Reiches beobachtet und analysiert hat, ist wieder zu hören. Und manches sickert schon wieder in die Alltagssprache ein.

Immer mehr Menschen laufen den völkischen Verführern hinterher, die unser Volk schon einmal in die Katastrophe geführt haben, die keine Alternative für, sondern gegen Deutschland sind, und die all das mit Füßen treten wollen und werden, was wir so mühsam errungen und erarbeitet haben: Freiheit und Demokratie, Menschenrecht und Menschenwürde, Frieden und ein geachteter Platz in der Völkergemeinschaft. Ihr Programm ist es, unsere Demokratie - das System, wie sie es verächtlich nennen - zu zerstören, unsere Rechte zu beschneiden, freie und unabhängige Medien zu zerschlagen, unser weltoffenes und liberales Land zum völkischen Riesenknast zu machen.

Am Abend der Landtagswahlen 2019 in Brandenburg und Sachsen saß ich fassungslos vor dem Computer und sah den braunen Streifen von der Uckermark bis zur Sächsischen Schweiz immer breiter werden. Ein paar Wochen später dann das ähnliche Bild in Thüringen. Es hieß, das seien vor allem Protestwähler, die denen da oben eines auswischen wollten. Das mag ja zum Teil stimmen. Aber kann es etwas dümmeres geben, als sich den Henker selbst zu wählen, der an einem an den Kragen will? Ich kann diese Leute nicht mal bedauern.

Die AfD ist eine in Praxis, Programm und Personal nationalistische, fremdenfeindliche und rassistische Partei, die völkisches Denken aus den Grüften geholt hat. Die Absage an Europa gehört zu ihrem Gründungsmythos. Werte und Traditionen des Christentums und der bürgerlichen Aufklärung werden mit Füßen getreten. Viele der Wortführer sind offen rechtsradikal und Verächter der Demokratie. Die Fremdenfeindlichkeit, der Haß auf alle, die anders sind, hat geradezu manische Züge.

Für mich ist diese Fremdenfeindlichkeit auch deswegen so unerklärlich, weil ich weiß, wie viele Menschen hierzulande selbst Flüchtlinge waren oder aus Flüchtlingsfamilien stammen. Ich war selbst Flüchtlingskind. Die Heimat meiner Eltern und Vorfahren war Schlesien. Aber es war mir frühzeitig bewußt, daß allein der Krieg und die Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten die Ursache für den Verlust der Heimat gewesen sind. Es waren Deutsche, die in ihrer völkischen Verblendung, ihrem Rassenwahn und blindem Haß auf alles Fremde, erst die eigenen Nachbarn im Nebenhaus, dann die Nachbarländer überfallen haben. Es waren Deutsche, die Europa mit Krieg überzogen und blindwütig gemordet, geraubt und zerstört haben. Nicht Polen oder Russen, Franzosen oder Engländer waren die Aggressoren, Deutsche waren es. Das ist die einfache, bittere Wahrheit.

Haben diese Menschen, die sich nun hemmungslos auf Flüchtlinge stürzen oder gegen sie hetzen, das alles vergessen? Haben sie vergessen, daß sie selbst und ihre Familien nur überlebt haben, weil ihnen großherzig von anderen geholfen wurde?


Notre Dame Paris nach dem Brand 2019 © Konrad Weiss 2019
Notre Dame in Paris nach dem Brand 2019

Im Sommer 2019 habe ich an einem Projekt der Zeitung Welt am Sonntag mitgearbeitet. Sieben Frauen und Männer aus der Bürgerbewegung waren eingeladen, eine Ausgabe mitzugestalten. Bei den Vorgesprächen wurden wir nach dem Ort gefragt, der sich für jeden von uns mit der Friedlichen Revolution verbindet. Ohne nachzudenken antwortete ich: Paris.

Die Geschichte war folgende: Ende 1989, bald nach der Maueröffnung, war ich zweimal kurz hintereinander in Frankreich. Das erstemal, weil ein Psychologenkongreß von meinem Korczak-Film Ich bin klein, aber wichtig den Titel entlehnt hatte und ich eingeladen war, den Film dort zu zeigen. Das zweitemal, weil ich an einer der Pariser Universitäten an einem Symposium über die deutsche Einheit teilgenommen habe.

Ich war zuvor noch nie in Paris gewesen. Paris war für meine Generation ein Sehnsuchtsort, ein Synonym für Freiheit und Lebensfreude. Für meine westdeutschen Altergenossen stand es auch für das Wunder der Verständigung mit den Nachbarn nach dem Krieg. Für viele Ostdeutschen, so wie für mich auch, verkörperte das polnische Krakau noch am ehesten dieses Lebensgefühl. Dort gab es Freiheiten, die in der DDR undenkbar waren. Und natürlich stand für uns Polen auch für das Wunder der Versöhnung. - Und nun stand ich also, schon Großvater, zum ersten mal in Paris.

Beim zweiten Besuch hatte ich etwas Zeit für die Stadt. Ich ging als erstes an die Seine und zu Notre Dame. Und dort, ich traute meinen Augen nicht, stand auf dem Parkplatz im Schatten der Kathedrale ein Reisebus aus Genthin, der kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt, in der ich aufgewachsen bin. Es gab in diesen Wochen und Monaten so viele unglaubliche, bewegende Augenblicke, aber dies nun hat mich zu Tränen gerührt. Ich stand also am Seineufer und schluchzte. Denn dieser alte Ikarusbus aus Genthin hatte die Veränderungen, die Befreiung durch die Friedliche Revolution so augenfällig gemacht. Und so vital, so kreativ, so weltoffen, ja welthungrig waren die Ostdeutschen damals: Kaum war die Mauer gefallen, machten sie sich auf, die Welt zu sehen, nachzuholen, was ihnen bisher verwehrt war.

In Notre Dame, angesichts der wunderbaren Fensterrosetten, hatte ich mich an einen Gedanken von Reinhold Schneider(2) erinnert, der Europa gesehen hatte wie eines der alten Fenster in unseren Kathedralen. Eine jede Scheibe habe ihre eigene Kraft und Transparenz. Alle transzendierten im selben Licht. Keine sei unverletzt, manche überzogen von Schleiern aus Rauch und Staub. Andere fehlten. Aber das Bild, das gemeint war, sei noch zu erkennen.

Und nun, drei Jahrzehnte später, im Spätsommer 2019, stand ich wieder an dieser Stelle und sah auf die vom Feuer schwer beschädigte Kathedrale: der Mittelturm abgebrannt, die Löcher im Dach mit Planen notdürftig abgedeckt, das Mauerwerk an vielen Stellen von den Flammen gezeichnet, die Rosettenfenster verhüllt, überall Gerüste und Kräne. Das nun schien mir wiederum ein eindrückliches Gleichnis zu sein für Europa heute - unser Europa, das so verletzlich ist und so gefährdet ist in seiner Einheit und Integrität. Dieses vereinte Europa, dem wir doch Frieden und Freiheit zu danken haben seit Jahrzehnten. Auch wenn das Bild, das gemeint war, manchmal kaum noch zu erkennen ist: Es gibt keine Alternative zu diesem Europa.

(...)

Text und Fotografien © Konrad Weiß 2019-2024