Publik-Forum, 7. Februar 2003

Kinder als Waffen. Der Mißbrauch palästinesischer Kinder als Selbstmordattentäter

von Konrad Weiß

Das Bild vom Berliner Alexanderplatz ging vor einem halben Jahr um die Welt: Bei einer antiisraelischen Demonstration trägt ein Palästinenser seine kleine Tochter auf den Schultern, das Kind lächelt und hat die Finger zum Victory-Zeichen gespreizt. Um die Stirn trägt die Sechsjährige ein Märtyrerband, um den Leib hat es Sprengstoffattrappen gebunden. Jetzt hatte sich der Vater vor Gericht zu verantworten. Er wurde zu fünf Monaten Haft auf Bewährung und 300 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt, weil er Straftaten gebilligt habe. Sollte das Urteil rechtskräftig werden, droht ihm die Abschiebung aus Deutschland.

Was hierzulande einhellige Empörung auslöste, ist in Palästina blutiger Alltag: Kinder in Uniformen, Kinder mit Maschinengewehren in den Händen, Kinder im Gleichschritt, Kinder mit dem Märtyrerband. Und Kinder als Selbstmordattentäter. Der höchste muslimische Geistliche von Jerusalem, Scheich Ekrima Sabri, hatte vor zwei Jahren zu Beginn der Al-Aksa-Intifada erklärt, je jünger ein "Märtyrer" sei, desto mehr Hochachtung habe er vor ihm. Seither sind mehr als 800 palästinensische Kinder ums Leben gekommen, auch als Selbstmordattentäter. Die palästinensische Autonomiebehörde veröffentlicht regelmäßig detaillierte Statistiken, in denen die "Märtyrer" nach Alter, Geschlecht und Herkunftsort aufgeführt werden. Ob es aber Zivilpersonen, Guerillas oder Kombattanten waren, verzeichnet die Statistik nicht.

Auch unter den israelischen Opfern sind immer wieder Kinder. Im November wurden im Kibbuz Metzer der fünfjährige Matan und sein vierjähriger Bruder No'am in ihren Kinderbetten erschossen. Ebenso die Mutter, die sich schützend über sie geworfen hatte. Auch bei dem Selbstmordattentat im Jerusalemer Stadtteil Kiryat Menachem starben Kinder oder wurden grausam verstümmelt. Die Eltern des Mörders, so berichtete die Jerusalem Post, seien stolz auf ihren Sohn und auf alle "Märtyrer": "Ich lobte Allah, als ich hörte, daß mein Sohn für die Sache Allahs und für unser Heimatland gestorben ist", habe der Vater, ein Händler aus Betlehem, gesagt.

In unseren Medien dominieren die Bilder von den Steine werfenden Palästinenserkindern, die von martialisch gepanzerten israelischen Soldaten beschossen, verwundet oder gar getötet wurden - David gegen Goliath. Journalisten oder Beobachter, die vor Ort waren, berichten allerdings, daß die Kinder häufig von fanatischen Erwachsenen an die vorderste Front geschickt würden. Der Stellvertreter Arafats, Mahmoud Abbas, sprach vor kurzem in einem Interview mit der kuwaitischen Zeitung Al-Zaman von einem solchen Vorfall. Demnach waren in der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen Kinder dazu gebracht worden, für ein paar Pfennige, umgerechnet einen Euro, Rohrbomben auf israelische Soldaten zu werfen. Mehr als 40 Kinder wurden verstümmelt, weil die Bomben vorzeitig in ihren Händen explodierten, viele verloren Hände oder Finger. Abbas sagte nun, er lehne den Einsatz von Kindern strikt ab. Die schwedische Königin Silvia hatte schon vor zwei Jahren die Teilnahme von Kindern an Kampfhandlungen verurteilt und die Autonomiebehörde aufgefordert, dies zu unterbinden: "Als Mutter bin ich darüber sehr besorgt. Die Palästinenser sollten nicht das Leben von Kindern ausbeuten."

Die Hamas indes, die für zahlreiche Selbstmordattentate verantwortlich ist, rechtfertigt in ihrer Kinderzeitung Al Fatih, Der Eroberer, die im Internet publiziert wird, die blutigen Verbrechen. Der Jihad, den Allah wolle, sei ein Heiliger Krieg gegen die Ungläubigen. In Heldengeschichten werden "Märtyrer" verherrlicht und die Kinder aufgerufen, sich am Kampf gegen Israel zu beteiligen. Welcher Lohn sie erwartet, können die Mädchen und Jungen im Testament eines der Attentäter lesen: "Jauchze und freue dich, meine Mutter, verteile Süßigkeiten mein Vater. Euer Sohn wird bald Bräutigam werden und die Mädchen des Paradieses heiraten. Nichts ist erhabener als ein Selbstmord auf palästinensischem Boden."

Mit solchen himmlischen Verlockungen beginnt die Verführung und Indoktrination der Kinder immer. Ein überhöhter Märtyrerkult tut ein übriges. Wer sich dafür empfänglich zeigt, wird in besonderen Gruppen geschult und in einem mehrjährigen Auswahl- und Trainingsprozess auf das Töten im Namen Gottes vorbereitet. Zugleich werden die Zwölf- bis Siebzehnjährigen dem alltäglichen Leben entfremdet und zuletzt von der Familie und den Freunden isoliert. Vor der Tat stehen dann 62 Stunden des Alleinseins, des ununterbrochenen Betens und Singens - ein Zustand der Trance. Zuletzt folgt ein rituelles Bad und das Scheren des Kopfes, das Zeichen der Shahidin, der "Märtyrer". Der Tod wird als freudiges Ereignis, als Geschenk an Allah erwartet. Augenzeugen berichten, daß die Attentäter unmittelbar vor der Tat einen regelrecht strahlenden Gesichtsausdruck gehabt hätten. Es gibt einen eigenen Ausdruck dafür im Arabischen - bassamat al-farah, das Lächeln der Freude.

Die Selbstmordattentäter sind eine teuflische Waffe. Die Hintermänner, die sie einsetzen, können sich ihres eigenen Lebens sicher sein, sie werden kaum einmal entdeckt. Ihre "Operationen" können sie effizient und mit großer Zielgenauigkeit durchführen; denn für lebendige Bomben sind Schutzmaßnahmen nicht erforderlich. Und sie können den Gegner optimal schädigen; Panik und Angst unter der israelischen Zivilbevölkerung sind Bestandteil der terroristischen Strategie. Präventivmaßnahmen sind fast unmöglich.

Ich frage mich: Was sind das für Politiker und Religionsführer, die Kinder zum Mord anstiften und zum Selbstmord verführen? Was sind es für Eltern, die glücklich sind, wenn ihre Kinder sterben? Daß nationalistischer und religiöser Wahn zu allem, auch zum Schlimmsten fähig macht, das wissen wir Deutschen aus unserer eigenen Geschichte. Auch Not oder Angst, Verzweiflung oder Ausweglosigkeit können Triebfedern sein. Vor allem aber ist es der Haß, dieser tödliche Haß, der den palästinensischen Kindern und dem palästinensischen Volk alle Zukunft raubt.

"Frieden wird es in Israel erst geben, wenn die Palästinenser ihre Kinder mehr lieben als sie uns Juden hassen", hat Golda Meir, die frühere israelische Ministerpräsidentin, schon vor Jahren gesagt. Aber wenn Kinder nun sogar als Waffen mißbraucht werden - welche Hoffnung bleibt dann?

© Konrad Weiß 2003-2024