"Wir wollen freie Menschen sein"


17. Juni 2003 Foto DGB

Rede am 17. Juni 2003 anläßlich der gemeinsamen Bauaktion "Denkbaustein" in der Berliner Karl-Marx-Allee zum Gedenken an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 - eine gemeinsame Aktion des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der IG Bauen-Agrar-Umwelt Berlin, der IG Metall Brandenburg-Sachsen, der BVV und dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, dem Bürgerbüro e.V. und dem Förderverein Karl-Marx-Allee


von Konrad Weiß

Das Denkmal, das heute errichtet wird, wird aus Abbruchsteinen gebaut. Diese Steine waren aus Trümmern geborgen worden. Aus den Trümmern der zerstörten Stadt, des zerstörten Landes, die die nationalsozialistische Diktatur hinterlassen hatte. Die meisten Steine wurden beim Aufbau wieder verbaut. Diese fanden keine Verwendung. Sie wurden mit dem Bauschutt vergraben. Ein halbes Jahrhundert lang lagen sie verschüttet und vergessen. Jetzt werden sie ans Tageslicht geholt und als Bausteine, als Denkbausteine verwendet. Als Denkmal für die Bauarbeiter vom Block 40, die hier im Juni 1953 gestreikt und demonstriert haben.

Ich finde, diese Steine sind ein gutes Symbol für den 17. Juni. Wer in der DDR gelebt hat weiß, daß dieser Tag jahrzehntelang vergessen und verfemt worden ist. Daß die tatsächlichen Ereignisse verschüttet waren unter einem Berg von Lügen, Fälschungen und Verleumdungen. Die Menschen, die damals auf die Straße gegangen sind, sollten vergessen werden. Nichts sollte an sie erinnern, an ihren Mut, an ihren tapferen Widerstand gegen die zweite deutsche Diktatur, an ihren Kampf für Freiheit und Demokratie. Wenn jener 17. Juni 1953 in der DDR überhaupt erwähnt wurde, dann als "faschistischer Putsch", als "Konterrevolution", die vom Westen gesteuert gewesen sei.

Auch der Umgang der Westdeutschen mit diesem Datum war problematisch. Zwar wurde er alsbald zum "Tag der Einheit" deklariert und als Feiertag begangen. Doch er wurde auch parteipolitisch instrumentalisiert und war den wechselnden politischen Bedürfnissen unterworfen. Je mehr man sich mit den SED-Machthabern einließ, desto weniger schien es ratsam, sie an ihre traumatischste Erfahrung, den Volksaufstand zu erinnern. Zuletzt wußte kaum noch ein Westdeutscher, weshalb er am 17. Juni arbeitsfrei hat. Diejenigen, die 1953 auf die Straße gegangen waren, waren auch bei den Westdeutschen vergessen. Nach der Wiedervereinigung wurde der Einheitsfeiertag sang- und klanglos abgeschafft.

Erst allmählich setzte eine Besinnung auf den 17. Juni 1953 und seine Neubewertung ein. Viele, die in der DDR jahrzehntelang zum Schweigen verurteilt waren, begannen nun sich zu erinnern. Mit der Öffnung der Archive der SED und des Staatssicherheitsdienstes wurde es möglich, die Ereignisse von damals sehr genau zu erforschen und zu rekonstruieren.

Heute steht fest, daß der 17. Juni 1953 ein Volksaufstand war, der Versuch einer demokratischen Revolution. In über 700 Städten und Gemeinden der DDR haben Arbeiterinnen und Arbeiter gestreikt und demonstriert. Vielerorts haben sich Bauern und Handwerker, Angestellte und Ingeniere und Lehrer angeschlossen. Über eine Million DDR-Bürger sind damals auf die Straße gegangen und haben für ihre Rechte gekämpft. Anzumerken ist jedoch auch, daß sich die meisten Künstler und Intellektuellen der revolutionären Erhebung verweigert haben.

Wie hier auf den Baustellen der Stalinallee, stand am Beginn aller Aktionen fast immer der Protest gegen die maßlose Normerhöhung und gegen die zahllosen wirtschaftlichen und sozialen Mißstände, für die allein die SED verantwortlich war. Ulbricht hatte auf der 2. Parteikonferenz im Juli 1952 den Aufbau des Sozialismus in der DDR verkündet. Und das in einem Land, das wirtschaftlich am Boden lag und in dem die Menschen unter Repressionen zu leiden hatten. Es ist eindeutig, daß eine Mehrheit der Ostdeutschen diesen Sozialismus, den totalitären Sozialismus stalinscher Prägung, nicht wollte.

Aus den sozialen Forderungen der Arbeiterinnen und Arbeiter wurden alsbald politische Forderungen. "Wir wollen freie Menschen sein", skandierten die Bauarbeiter, als sie vom Strausberger Platz zum Haus der Ministerien zogen. Der Ruf nach Freiheit wurde zur zentralen Forderung des Juni-Aufstands. Überall in der DDR forderten die Menschen freie Wahlen, die Zulassung demokratischer Parteien, den Sturz des SED-Regimes. Überall verlangten sie die Freilassung der politischen Gefangenen. Überall wollten sie die Abschaffung der Zonengrenzen und die Wiedervereinigung. Und als sich in den Betrieben in der DDR herumsprach, daß hier in Berlin Arbeiter verhaftet worden waren, beschloß man, so lange im Ausstand zu bleiben, bis diese frei sind.

Der Juniaufstand, das läßt sich ohne Zweifel sagen, war ein politischer Aufstand, der Versuch einer demokratischen Revolution. Und nichts davon war vom Westen eingeflüstert. Es waren die Forderungen einer selbstbewußten Arbeiterschaft, die doch miterlebt hatte, wohin Diktaturen führen, erst die nationalsozialistische, dann die stalinistische Diktatur. Mit beiden Regimen wollten die Aufständischen des 17. Juni 1953 nichts mehr zu tun haben. Was sie wirklich wollten, war Demokratie.

Ihr Mut ist nicht hoch genug einzuschätzen. Es war eine Zeit, in der ein politischer Witz, eine politische Losung, ein Flugblatt eine jahrelange Zuchthausstrafe oder gar den Gulag zur Folge haben konnte. Alle, die in jenen Junitagen auf die Straße gegangen sind, kannten die Gefahr. Sie sind dennoch mitgegangen, haben ihre Angst überwunden, haben gestreikt und demonstriert.

Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Mehr als fünfzig Demonstranten wurden erschossen, zu Tode geprügelt, von Panzern überrollt. Zahllose Menschen wurden verletzt. Mindestens achtzehn Aufständische wurden von den sowjetischen Besatzern standrechtlich erschossen. Tausende wurden verhaftet, hunderte verurteilt. Sie kamen auf Jahre ins Gefängnis oder nach Sibirien. Viele, die sich beteiligt hatten, mußten noch lange berufliche Nachteile oder die soziale Diskriminierung in Kauf nehmen.

Sie alle dürfen nicht vergessen werden. Es muß uns eine selbstverständliche Pflicht sein, jene Menschen zu würdigen, die sich unter persönlichen Opfern für Freiheit und Demokratie eingesetzt haben. Es wichtig, daß uns ihre Namen und Gesichter bekannt werden, damit sie in der Erinnerung unseres Volkes lebendig bleiben. Dazu gehört auch, daß wir ihnen, die nun zumeist in hohem Alter sind, einen gesicherten Lebensabend ermöglichen. Es ist unerträglich, wenn heute die Handlanger der SED vielfach besser gestellt sind als diejenigen, die mutig gegen die Diktatur gekämpft haben.

Der Volksaufstand in der DDR war die erste große Erhebung im sowjetischen Machtbereich überhaupt. Er steht am Beginn einer großen europäischen Tradition des Widerstands gegen den totalitären Sozialismus. Diese revolutionäre Tradition fand ihre Weiterführung mit dem Aufstand in Ungarn, mit dem Prager Frühling, mit der polnischen Solidarnosc. Sie mündete in der Selbstbefreiung der mittel- und osteuropäischen Völker im Jahre 1989 und in der friedlichen Revolution der Ostdeutschen.

Doch auch das gehört zur historischen Wahrheit: Für die Opposition der achtziger Jahre und die Bürgerbewegungen des Herbstes 1989 war der 17. Juni 1953 kein prägendes Datum. Nach vierzig Jahren DDR-Propaganda gab es weder eine personelle noch eine ideelle Kontinuität. Der Prager Frühling, die polnische Solidarnosc waren uns viel eher Vorbild. In keinem der Aufrufe findet sich ein Bezug auf den Volksaufstand. Dennoch: Das Verlangen nach Freiheit und Demokratie war in den Ostdeutschen niemals erloschen. Aus dem Ruf der Berliner Bauarbeiter 1953 "Wir wollen freie Menschen sein" wurde 1989 der Ruf der Leipziger Demonstranten "Wir sind das Volk". Vieles, was die Aufständischen 1953 gefordert hatten, wurde mit der friedlichen Revolution 1989 Wirklichkeit.

Wir alle, Ostdeutsche wie Westdeutsche, Alte und Junge sind verantwortlich dafür, daß das revolutionäre Erbe von 1953 wie von 1989 nicht verloren geht. Wir sind verantwortlich für den Schutz von Freiheit und Demokratie in unserem Land. Wir müssen das, was die Arbeiterinnen und Arbeiter 1953 gefordert haben und was 1989 in ganz Deutschland Wirklichkeit geworden ist, verteidigen.

Auch heute sind Freiheit und Demokratie gefährdet. Sie sind gefährdet durch den übermächtigen Staat, durch den Egoismus der Parteien, durch unsere Gleichgültigkeit. Und durch den Abbau sozialer Rechte. Auch der Kampf um soziale Gerechtigkeit ist ein Kampf um Menschenwürde und Demokratie. Ein demokratisches Gemeinwesen kann nicht auf Dauer bestehen, wenn Sozialabbau und soziale Ungerechtigkeit die Oberhand gewinnen.

Es ist gut und richtig, daß heute hier dieser Denkstein gebaut wird, und daß an vielen Orten im Lande an den Volksaufstand erinnert wird. Doch die beste Ehrung für die Aufständischen des 17. Juni 1953 ist es, wenn wir alle das leidenschaftlich und entschieden verteidigen, wofür sie damals unter Opfern eingetreten sind: Freiheit und Menschenrechte und Demokratie.

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