Die Kirche, Glaube und Heimat, Der Sonntag, 4. Oktober 1998

Die Familie der Demokraten - Hoffnung für Haiti

von Konrad Weiß

Im Sommer 1991, wenige Monate nach der Wiedervereinigung, habe ich Haiti besucht, eines der ärmsten Länder unserer Erde. Unvergessen ist mir das Gespräch mit Jean-Bertrand Aristide, dem Priester, den die Armen des Landes zum Präsidenten gewählt hatten und der bald darauf von den Reichen wieder gestürzt werden sollte. Er war nicht heimisch im Präsidentenpalast, wo er uns empfing, das spürte man. Er bewegte sich unsicher inmitten der kolonialen Pracht und sprach mit leiser Stimme. Ein Gedanke aus dem langen Gespräch ist mir unvergessen geblieben: Wir, die Demokraten, sagte Aristide, sind eine Familie. Die demokratischen Länder müssen füreinander einstehen, wie das in einer Familie doch selbstverständlich ist. Dringend, fast flehentlich bat er um Investitionen und wirtschaftliche Unterstützung seines Reformprojektes. Er dürfe, sagte er, die Armen nicht enttäuschen.

Doch die Industrienationen, auch Deutschland, verweigerten dem Befreiungstheologen, der ihnen suspekt war, wirksame Hilfe. Die Familie der Demokraten versagte erbärmlich. Während wir in Deutschland den ersten Jahrestag der Wiedervereinigung feierten, wurde Aristide von Putschisten aus dem Land gejagt. Hunderte seiner Anhänger wurden ermordet. Auch wenn er dank einer militärischen Intervention amerikanischer Staaten inzwischen wieder zurückkehren konnte, die Operation Restore Democracy - Wiederherstellung der Demokratie - ist gescheitert. In einem Land, das so bitterarm ist, hat Demokratie keine Chance. Die Arbeitslosenquote liegt bei 70%, mehr als Dreiviertel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, in erbärmlicher Armut - so steht es wörtlich im Länderbericht der CIA.

Was Armut wirklich ist, habe ich bei meinem Besuch in Haiti gesehen. Im Norden des Landes, in Cap-Haïtien, besuchten wir damals ein Projekt zur Slumsanierung, an dem deutsche Entwicklungshelfer beteiligt waren. Ein Bild ist mir unvergessen: An zwei Fabrikmauern, in einem schmalen Streifen, in dem vielleicht einmal die Werksbahn gefahren war, klebten in langer Reihe Pappkartonhäuser. Dutzende Familien lebten dort. Es hatte geregnet, der Boden, ein Gemisch aus Schlamm, Fäkalien und Abfällen war aufgeweicht, es stank unbeschreiblich. Frauen wuschen im Regenwasser, das sie in zerbeulten Schüsseln aufgefangen hatten, ihre Kinder.

Inmitten der Kartonhäuser stießen wir auf einige Frauen und Männer, die mit einer gewissen Feierlichkeit unter einem Dach aus Palmblättern saßen. Es war ein Komitee, so war auf einem Schild zu lesen, zur Anschaffung einer Schubkarre. Sie hätten sich zusammengetan, erzählte die Vorsitzende, um ihre Gegend sauberer halten zu können. Hier gebe es keine Toiletten, keine Abfallbehälter. Sie müßten ihre Notdurft im Freien verrichten, man röche es ja. Einmal hätten sie das Geld schon fast zusammengehabt, doch dann hätten sie es Präsident Aristide für die Alphabetisierungskampagne geschickt. Ich habe der Versuchung widerstanden, ihnen die fünfzig Dollar für eine Schubkarre in die Hand zu drücken. Denn ich spürte, daß wichtiger als die Schubkarre das gemeinsame Projekt, die Solidarisierung gegen die Armut war.

Wenn ich in die vielen freudlosen Gesichter hierzulande sehe und das maßlose Jammern höre, dann fällt mir unweigerlich das Schubkarren-Komitee von Cap-Haïtien ein. Ich weiß: Das Elend irgendwo sonst auf der Welt tröstet niemanden, dem es hier dreckig geht. Aber wenn wir den Tag der Einheit und unsere gelungene friedliche Revolution feiern, sollten wir uns wenigstens daran erinnern, daß Freiheit und Demokratie längst nicht allen gegeben sind, die darum gekämpft haben und sich danach sehnen. Auch sie gehören zu uns, zur Familie der Demokraten. Ich hoffe, daß für die neue Bundesregierung Solidarität nicht nur ein Schlagwort im Wahlkampf gewesen ist.

© Konrad Weiß 1998-2024