Aufbau, New York, Vol. LXI, Nr. 15 vom 21. Juli 1988, S. 17

Heinrich Finkelstein. Kinderarzt und medizinischer Lehrmeister

von Konrad Weiß


Heinrich Finkelstein, Repro-Foto Konrad Weiß
Heinrich Finkelstein, um 1935

Heinrich Finkelstein gehört zu den großen Deutschen 20. Jahrhunderts, die fast vergessen sind. In kaum einem Lexikon findet sich sein Name. Die Idee, den Drang nach ewigem Leben in Form einer Autobiographie abzureagieren, habe er persönlich erstickt, schreibt Heinrich Finkelstein 1942, kurz vor seinem Tod, an den Kinderarzt Rudolf Neumann, "besonders auch weil in unserer Zeit der modernen Atomphysik und des organisierten Massenmordes der Geister und Körper der Einzelne mit seinen Erlebnissen so fehl am Platz erscheinen würde, wie Jesus Christus oder Goethe in einer Sitzung des Nazireichstages." Zudem habe er, als er 1939 Deutschland verlassen mußte, mit einem energischen, schmerzhaften Schnitt alles abgetrennt - Notizen, Briefe, Dokumente, Bilder - was ihn irgendwie an das Einstmals band.

Ich bin auf Heinrich Finkelstein durch Janusz Korczak aufmerksam geworden. Korczak nennt ihn in seinen Erinnerungen einen seiner medizinischen Lehrmeister. Über die Begegnung der beiden Kinderfreunde wissen wir nichts. Korczak hatte vom Sommer 1907 an für ein Jahr in Berlin an verschiedenen Kliniken praktiziert und seine Ausbildung vervollständigt. Finkelstein war damals Privatdozent an der Berliner Universität und gab einmal in der Woche, "privatissimum und unentgeltlich", ein Colloquium über die wichtigsten Erkrankungen des Säuglingsalters. Möglich, daß Korczak ihn dort gehört hat. Wahrscheinlicher aber ist, daß die beiden Männer sich in einer Klinik, am Krankenbett ihrer Schützlinge, begegnet sind.

Heinrich Finkelstein wurde am 31. Juli 1865 in Leipzig geboren. Sein Vater Saul Finkelstein (1832-1897), der "in seiner stillen Art weniger durch Worte als durch Beispiel wirkte", war dort Kaufmann und langjähriges Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde. Über die Mutter schreibt er: "Sie hat uns nicht gescholten, sie war womöglich noch liebevoller mit uns und hat trotz aller Angst und Sorge unsere späteren alpinen Unternehmungen sogar heimlich mit erspartem Wirtschaftsgeld unterstützt." Seine Liebe zu den Bergen hat Heinrich Finkelstein frühzeitig entdeckt. Bereits der Fünfzehnjährige schwärmt in einer Skizze "Erste Bergfahrt" von den Schweizer Alpen. Ausgedehnte Bergwanderungen, die Stille und Schönheit der Berge waren ihm zeitlebens eine Quelle der Kraft.

Ab 1884 studierte er in München und Leipzig Naturwissenschaften, insbesondere Geologie, und promovierte 1888 zum Dr.phil. Erst danach begann er, zutiefst betroffen durch den Tod des Bruders, mit dem Studium der Medizin, das er 1897 mit der Promotion abschloß. Zwei Jahre lang war Heinrich Finkelstein dann in Leipzig Volontär am Städtischen Krankenhaus. Zum Fachgebiet wählte er die Kinderheilkunde. Sein Lehrer war Otto Heubner, dem er nach Berlin folgte, als dieser die erste Professur für Kinderheilkunde an der Charité erhielt. Noch als Heubners Assistent veröffentlichte Finkelstein zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, 1899 habilitierte er sich mit einer Schrift Über Mittelohrentzündungen bei Säuglingen. Sein Lehrer schätzte ihn als sorgfältigen Beobachter am Krankenbett, der auch auf kleine, scheinbar unerhebliche Details sein Augenmerk lenke und sie zu klarer Erkenntnis der krankhaften Prozesse zu verwerten suche. "Er darf mithin als sowohl durch Gelehrsamkeit wie durch Geist ausgezeichnet angesehen werden".

Die Pädiatrie, insbesondere die Säuglingsheilkunde, steckte damals noch in den Kinderschuhen. Heinrich Finkelstein erinnerte sich später, daß zu Beginn seiner Tätigkeit an der Charité um 1895 etwa 75% der ihm anvertrauten Pfleglinge starben; die meisten Krankenhäuser nahmen Säuglinge erst gar nicht auf. Die Säuglingsabteilung der Charité befand sich, so schildert Finkelstein es, "mit 11 Betten, einer Couveuse und einer Wärmewanne in einem kleinen, schlecht ventilierten Durchgangsraum, ohne Wasserleitung, mit ungenügenden Waschvorrichtungen unter der Obhut einer Tag- und einer Nachtschwester." Sein Vorgänger hatte geraten, die Säuglingsabteilung ganz eingehen zu lassen, da sie nur dazu führe, die Universität zu diskreditieren. In Preußen lag die Säuglingssterblichkeit zu dieser Zeit bei 20%, jedes fünfte Geborene starb vor Ablauf des ersten Lebensjahres.

Erst vor diesem Hintergrund kann man das Lebenswerk Finkelsteins richtig würdigen. Von 1901 bis 1918 war er leitender Oberarzt des Berliner Kinderasyls in der Kürassierstraße und des Städtischen Waisenhauses. 1918, nach dem Tod von Adolf Baginsky, dem anderen bedeutenden deutschen Kinderarzt, bei dem auch Korczak praktiziert hatte, wurde er Ärztlicher Direktor des Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhauses im Berliner Arbeiterviertel Wedding. Hier gelang es ihm bis 1925, die Säuglingssterblichkeit auf 4,3% zu senken, ein Wert, der landesweit erst Jahrzehnte später unterschritten wurde.

Eng verbunden mit der klinischen Praxis war seine wissenschaftliche Arbeit über Ernährungsstörungen, Hautkrankheiten und geburtsbedingte Schäden der Neugeborenen. Gemeinsam mit Ludwig F. Meyer (1879-1954) entwickelte er die Eiweißmilch, die zahlreichen Säuglingen, die unter Ernährungsstörungen litten, das Leben gerettet hat. Finkelsteins Hauptwerk aber ist das Lehrbuch der Säuglingskrankheiten, das für Generationen von Kinderärzten in Europa und Lateinamerika, bis weit in die Nachkriegszeit hinein, zum Standardwerk wurde. "Nur derjenige wird Säuglinge richtig beurteilen und mit Erfolg behandeln können, der sich gewöhnt, das kranke Kind und nicht den kranken Darm zum Gegenstand seiner Aufmerksamkeit zu machen", faßt er darin seine Erfahrung und seine Auffassung von einer ganzheitlichen Medizin zusammen. Immer war er bestrebt, den Kindern Angst und Schmerzen zu ersparen, denn: "Diagnostische Eingriffe sind nicht dazu da, die Neugierde des Arztes zu befriedigen." Heinrich Finkelstein, der erst Privatdozent, dann Titularprofessor an der Berliner Universität war, ließ bereitwillig junge Ärzte in seiner Klinik hospitieren. Doch obwohl auch international als Pädiater geachtet und geehrt, hat er nie eine Ordentliche Professur bekommen - er war Jude.

Insbesondere mit seinen Vorstellungen von einer umfassenden öffentlichen Säuglingsfürsorge war Heinrich Finkelstein seiner Zeit weit voraus, vieles davon wurde erst Jahrzehnte später verwirklicht. Bereits 1905 forderte er u.a. die Ausdehnung der gesetzlichen Fürsorge für berufstätige Schwangere und Wöchnerinnen, die Einführung einer angemessenen Ruhezeit vor und nach der Entbindung, die Schaffung von Anstalten, die unterkunftslosen Mütter für längere Zeit das Zusammenleben mit ihren Kindern ermöglichen würden, die kostenlose Abgabe einer einwandfreien Säuglingsmilch an Arme sowie die Einrichtung von Säuglingsheimen und Säuglingshospitälern. "Der Reichen Kinder leben, weil alle Bedingungen erfüllt werden, die Bürgschaft für ihr Gedeihen geben, der Armen Kinder sterben, weil in bitterer Not die Ernährung und Pflege versagt."

Auf eine Familie, auf eigene Kinder hat Heinrich Finkelstein verzichtet, er lebte zurückgezogen und bescheiden zusammen mit seiner Schwester. Er wirkte, so erinnern sich Zeitgenossen, stets etwas befangen und versuchte, seine Schüchternheit hinter einer leichten Ironie zu verbergen. Politisch war er, soviel wir wissen, uninteressiert. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten und ihr antijüdischer Terror muß für ihn ein tiefer Schock gewesen sein; am 1. März 1933 trat er in den Ruhestand, zwei Jahre später verlor er seine Lehrberechtigung und alle Titel. 1936 wurde er als Gastprofessor nach Chikago eingeladen; doch er kehrte bald nach Berlin zurück, weil er "als alter Mann niemanden im Ausland zur Last fallen" wollte.

Erst der Novemberpogrom von 1938 brachte ihn dazu, Deutschland endgültig zu verlassen. Heinrich Finkelstein wanderte nach Chile aus, war aber zu alt und zu krank, um noch einmal von vorn beginnen zu können. Von der Volksfrontregierung, in der Salvador Allende Gesundheitsminister war, wurde ihm eine Ehrenrente ausgesetzt, nach dem Sturz dieser Regierung aber wieder entzogen. Kollegen von der Universität in Santiago beschafften ihm ein pro-forma-Anstellung als Krankenhausbote, die ihm das tägliche Brot sicherte, und zogen ihn bei schwierigen Fällen als Berater hinzu. Am 28. Januar 1942 starb Heinrich Finkelstein in Santiago de Chile; sein Grab wird bis heute von der dortigen Universität in Ehren gehalten.

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