Ja zur Einheit, Nein zum Einigungsvertrag

Rede in der Volkskammer zur 3. Lesung des Einigungsvertrages am 20. September 1990

von Konrad Weiß


Der Vertrag, über den dieses Hohe Haus heute abschließend zu befinden hat, sollte die Bedingungen für die neue Einheit der Deutschen nach viereinhalb Jahrzehnten der Trennung regeln. Er sollte zugleich die Voraussetzungen schaffen, damit das vereinte Deutschland künftig Teil eines vereinten Europa sein kann.

Denn die deutsche Einigung ist nicht allein die Angelegenheit der Deutschen, es ist die Sache aller Europäer. Ohne die großmütige Bereitschaft unserer Nachbarn, sich mit den Deutschen auszusöhnen und uns nun die Hoheit über unser Land zurückzugeben, gäbe es diesen dritten Oktober nicht.

Uns sollte bewußt sein, daß wir auch in dem neuen Staat, der nun entstehen soll, verantwortlich bleiben für das, was in deutschem Namen in der Vergangenheit geschehen ist. Die Volkskammer hat sich zu Beginn ihrer Arbeit zu dieser Verantwortung bekannt. Der bescheidenen Bitte des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden aber, dem auch in der Präambel des Einigungsvertrages Ausdruck zu geben, wurde nicht entsprochen.

Geradezu beschämend jedoch ist es, daß im Einigungsvertrag keine umfassenden und abschließenden Regelungen für das seinerzeit zwangsweise "arisierte" Eigentum getroffen worden sind. Es gibt mehrere hundert Grundstücke und Gebäude auf dem Gebiet der DDR, die jüdischen Gemeinden und Körperschaften gehörten, die zwangsweise enteignet worden sind und die sich nach 1945 die SED, die Block-Parteien und -Organisationen oder der Staat angeeignet haben. Selbstverständlich haben auch alle Überlebenden oder die Erben der Opfer der Shoah Anspruch auf Rückgabe ihres Eigentums, auf Entschädigung und Wiedergutmachung. Ich bin zutiefst betroffen, daß bei der Einigung ausgerechnet hier gespart werden soll.

Gerade in dieser Zeit, in der für uns alle die deutschen Angelegenheiten so sehr im Mittelpunkt stehen, ist es notwendig, sensibel für die Empfindungen unserer Nachbarn zu bleiben und auch die Aufarbeitung der eigenen schmerzlichen Geschichte nicht zu vergessen. Es gibt zu viele, die schon heute nichts mehr von dem wissen wollen, was sie vor einem Jahr gedacht und getan haben.

Ich möchte die Gelegenheit, noch einmal vor der Volkskammer sprechen zu dürfen, nutzen, um mich mit einem Wort des Dankes, der Achtung und der Solidarität an Christa Wolf, Stefan Heym und all jene Intellektuellen zu wenden, die sich in den zurückliegenden Jahren mit unserer deutschen Misere auseinandergesetzt, sich selbst ehrlich über ihre Verstrickung in unsere gemeinsame Schuld befragt haben, nun aber dafür beschimpft werden. Ich denke, gerade wer politische Verantwortung trägt und Macht ausübt, braucht solche mahnende Nachdenklichkeit.

In dem Vertrag, über den wir zu entscheiden haben, sind zahlreiche Änderungs- und Ergänzungsvorschläge unberücksichtigt geblieben, die den Verhandlungsführern von den Ausschüssen mit auf den Weg gegeben worden waren. In jedem Fall hatten die Ausschüsse ihre Voten mit Sachkenntnis und im Interesse der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes gegeben. Daß der Nachbesserungsauftrag des Parlaments derart mißachtet wurde, ist in meinen Augen eine unerträgliche Brüskierung der gewählten Volksvertreter.

Am Ergebnis der Nachverhandlungen fällt auf, daß wirklich wesentliche Nachbesserungen allein in jenem Bereich erzielt wurden, der den Umgang mit den Akten des Staatssicherheitsdienstes betrifft. Anfangs gehörte ich zu den Kritikern des Hungerstreiks in der Normannenstraße. Ich war der Auffassung, daß zuerst wir, die gewählten Parlamentarier, für eine Lösung dieses Problems zu sorgen hätten. Nun aber muß ich begreifen, daß die Besetzer recht haben. Denn der verächtliche Umgang mit einem von der Volkskammer geschaffenen Gesetz hat uns nackt und brutal die Schwäche unserer Demokratie vor Augen geführt. Ich gebe zu, es war für mich eine schmerzliche Erfahrung. Es gehört für mich zu den Geburtsfehlern der künftigen deutschen Republik, daß dem Wort der gewählten Volksvertreter weniger Gewicht beigemessen wurde als den außerparlamentarischen Aktionen einzelner.

Dies ist um so bedauerlicher, als bei den Verhandlungen zu diesem Vertrag doch Abgeordnete der Volkskammer als Vertreter der künftigen Länder anwesend waren. Ich habe diese Beteiligung als nützlich für die Verhandlungen angesehen und bin der Meinung, daß wir Parlamentarier uns in den Verhandlungsrunden, an denen wir beteiligt waren, durchaus konstruktiv und zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger der östlichen Bundesländer einbringen konnten. Ich denke, wir haben in einigen schwierigen Phasen die Verhandlungsposition von Herrn Staatssekretär Krause durchaus gestützt - hartnäckiger und eindeutiger jedenfalls als einige Beamte seines Stabes, die ich als inkompetent und passiv erlebt habe. Ich bin der festen Überzeugung, daß die unzureichenden Verhandlungsergebnisse in manchen Bereichen auf die allzu servile Nachgiebigkeit zurückzuführen sind und daß auch in den Expertenrunden nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft wurden. Dies - das muß ich fairerweise betonen - betrifft nicht die Mehrzahl der Verhandlungsdelegation.

Ich will auch nicht verschweigen, daß es bei einigen, auch wesentlichen Positionen tatsächlich keinen Spielraum mehr gegeben hat. Der Schatten des Bundesfinanzministers war am Verhandlungstisch allgegenwärtig. Auch die Ländervertreter hielten ihre Arme durchaus nicht weit geöffnet für die neuen Bundesländer. Es hat mich schon befremdet, daß nüchterne Haushaltsüberlegungen immer und überall den Vorrang vor der Idee der Einheit hatten, zumal ich mich gut an so viele wohltönende Reden aus der Zeit erinnere, als sie noch wohlfeil waren. Ich respektiere ja die Sparsamkeit von Bund und Ländern, aber angesichts eines Verteidigungshaushaltes von 53 Milliarden scheinen mir die verweigerten Millionen für Kindergärten oder Jugendclubs, für Arbeitslose, für berufstätige Mütter oder für Vorruheständler wirklich fragwürdig.

Als geradezu unmoralisch aber empfinde ich es, daß viele, die in der Vergangenheit durch die SED und ihre Helfershelfer verfolgt wurden und vielfach benachteiligt waren, nun keinen Anspruch auf eine Entschädigung haben. Die nur fragmentarische Berücksichtigung unseres Rehabilitierungsgesetzes im Einigungsvertrag ist eine Schande. Hier hat Krämergeist über die Gerechtigkeit gesiegt. Anspruch auf Rehabilitierung haben nur jene, die verurteilt worden sind. Was, muß gefragt werden, wird aus jenen, die monatelang ohne Verurteilung in den Gefängnissen der Staatssicherheit zugebracht haben? Was aus jenen, die wegen der Inanspruchnahme selbstverständlicher Menschenrechte hohe Strafen zahlen mußten? Und wie soll denen Gerechtigkeit werden, die um ihrer Überzeugung willen in Ausbildung und Beruf benachteiligt waren? Ich denke, in dieser Frage sollte das künftige deutsche Parlament so bald als möglich verantwortlich handeln.

Der Katalog dessen, was auch nach den Voten unserer Ausschüsse ungenügend oder überhaupt nicht geregelt worden ist, ist zu lang, um ihn hier vorzutragen.

Die Fraktion Bündnis 90/Grüne sieht nach wie vor dringenden Handlungsbedarf in allen sozialen Fragen. Gerade die in der DDR schon immer benachteiligten Bürgerinnen und Bürger - die Rentner und die Behinderten - haben einen Anspruch auf schnellste Angleichung ihrer Bezüge an das in den westlichen Bundesländern übliche Niveau. Es muß eine der vordringlichsten Aufgaben des gesamtdeutschen Gesetzgebers sein, die berufliche und soziale Gleichstellung der Frauen zu verwirklichen.

Meine Fraktion betrachtet es als einen schwerwiegenden Verlust, daß unser modernes Zivildienstrecht, das wir uns im Ergebnis des Deutschen Herbstes geschaffen hatten, nicht anstelle der verstaubten bundesdeutschen Regelung gesetzt worden ist. Unverständlich ist auch, daß der antiquierte § 175 des Strafgesetzbuches, der Homosexuelle diskriminiert, fortgelten soll. In diesem Zusammenhang muß ich ausdrücklich bedauern, daß die östlichen Bundesländer fast überall westdeutsches Recht übernommen haben, unsere Gesetze aber auch dann nicht Bundesrecht geworden sind, wenn sie moderner und besser waren.

Zu den unbefriedigend verhandelten Problemen zählen wir ferner die Fragen der Eigentumsrechte, die durch den Einigungsvertrag vorgenommenen Einschränkungen des Kommunalvermögensgesetzes und die Regelungen für die Landwirtschaft. Daß das gerade erst geschaffene Gesetz der Volkskammer über Gruppenbetriebe nicht fortgelten soll, benachteiligt unsere Bauern und Bäuerinnen erheblich und verringert ihre Chance, auf dem europäischen Markt mit ihren Produkten zu bestehen. Auch die an sich erfreuliche Übernahme der Verordnungen über Naturparks und Naturschutzgebiete in den Einigungsvertrag wird durch den gleichzeitig ausgesprochenen Vorbehalt bezüglich der Schaffung von Verkehrswegen relativiert.

Auch der Kulturausschuß hatte in seinem Votum wichtige Positionen nachgetragen, die vom Ausschuß Deutsche Einheit übernommen wurden. Hierzu gehörte die Mitfinanzierung durch den Bund für Kultureinrichtungen von nationaler und europäischer Bedeutung, die Anerkennung künstlerischer Berufe, die es so in den westlichen Bundesländern nicht gibt und die überaus dringliche Einrichtung einer Künstlersozialversicherung. Leider wurde der Einigungsvertrag auch in diesen Positionen nicht nachgebessert.

Ein weiterer Skandal unter vielen anderen aber ist es, daß das Rundfunküberleitungsgesetz der Volkskammer nicht als fortgeltendes Recht aufgenommen worden ist. Der Artikel 36 des Einigungsvertrages, darüber bestand doch Konsens, sollte durch dieses Gesetz ausgeformt und praktikabel gemacht werden. Das gerade war doch der Kern des gefundenen Kompromisses. Der Ausschuß Presse und Medien hat das Gesetz gemeinsam mit dem Medienministerium auf der Grundlage des Artikels 36 und in Absprache mit dem Bundesinnenminister novelliert. Mir ist völlig unverständlich, daß nun derselbe Minister dieses Gesetz nicht akzeptiert. Ich habe mich in meinem Ausschuß und in meiner Fraktion für den ausgehandelten Kompromiß nachdrücklich eingesetzt. Nun, diese persönliche Bemerkung sei mir erlaubt, fühle ich mich schlichtweg betrogen.

Und noch eine weitere persönliche Anmerkung zum Schluß. Nach dem Verhandlungsstand bis zur zweiten Lesung und den zahlreichen Nachbesserungsvorschlägen, die aus den Ausschüssen gekommen waren und die wir im Ausschuß Deutsche Einheit zusammengefaßt und als Verhandlungsauftrag übermittelt hatten, war ich entschlossen, dem Einigungsvertrag trotz aller Mängel und gegen die mehrheitliche Meinung meiner Fraktion zuzustimmen. Ich wollte nicht das, was im Interesse der Bürgerinnen und Bürger der östlichen Bundesländer erreicht ist, gefährden.

Die Ergebnisse der Nachverhandlungen, die völlig unbefriedigend sind und in einigen Fällen bereits erreichte Positionen wieder aufgeben, machen mir nun jedoch die Zustimmung unmöglich. Ich will die Einheit Deutschlands, und ich habe engagiert dafür gearbeitet. Aber dieser Vertrag hat in seiner endgültigen Fassung so wesentliche Mängel, daß er in vielem den Bürgerinnen und Bürgern, denen ich Rechenschaft schuldig bin, schadet. Ich lehne daher, mit der Mehrheit meiner Fraktion, den Einigungsvertrag in der vorgelegten Fassung ab.