Deutsche Welle, 23. Juni 2001

Wann verjährt eine Diktatur?

von Konrad Weiß

Jetzt sitzen SPD und Grüne in der Falle. Ohne PDS geht in der Berliner Landespolitik gar nichts mehr. Und das, so ist zu fürchten, wird auch nach Neuwahlen so sein. Schuld daran sind vor allem die bisherigen Koalitionspartner CDU und SPD, die schon lange gegeneinander regiert und den Leuten das Vertrauen in die Politik genommen haben. Krisengewinnler wird die PDS sein, die den Wählern einreden wird, sie sei unverbraucht und unbelastet und schrecklich sozial. Und ausgerechnet die Grünen machen den Steigbügelhalter für die SED-Nachfolgepartei: Elf Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR müsse vergessen und vergeben sein.

Aber wann verjährt eine Diktatur? Das ist keine rhetorische Frage, und sie ist nicht juristisch, sondern politisch gestellt. Zum Aufstand der westdeutschen 68iger ist es nicht zuletzt deswegen gekommen, weil sie die Auseinandersetzung ihrer Eltern mit dem Nationalsozialismus für ungenügend hielten. Die gegenwärtigen Bemühungen um eine Entschädigung der Zwangsarbeiter zeigen, daß die menschlichen und politischen Folgen der ersten deutschen Diktatur noch immer nicht aufgearbeitet sind. Das wird solange so bleiben, wie Menschen leben, die gelitten haben.

Warum sollte für die zweite deutsche Diktatur, die SED-Diktatur, etwas anderes gelten? Dürfen wir, obwohl wir um das Unrecht wissen, das im totalitären Sozialismus der DDR geschehen ist, auf eine neue 68iger Generation hoffen, die uns die bitteren Fragen abnimmt? Dürfen wir darauf rechnen, daß ein Bundestag irgendwann in Jahrzehnten das beschließt, was die Politik heute verweigert? Oder sind nicht wir, die Zeitgenossen, verpflichtet zu handeln?

Die PDS, die Nachfolgepartei der SED, drückt sich um ihre Verantwortung für die Opfer und beläßt es bei billigen Worten. Sie duldet nicht nur die Handlanger der zweiten deutschen Diktatur in ihren Reihen, sondern schützt und unterstützt sie. Und sie versucht systematisch, den totalitären Sozialismus, für den sie verantwortlich war, zu verharmlosen und ihre DDR schönzureden. Auf das demagogische Gerede der Sozialisten, mit der DDR würde auch die Lebensleistung derer in Frage gestellt, die dort gelebt haben, wird leider allzu bereitwillig gehört. Richtig ist doch, daß zur Lebensleistung der DDR-Bürger vor allem gehört, den SED-Staat geschwächt und am Ende überwunden zu haben. Soll man ihm nun wieder auf die Beine helfen?

Genau das geschieht gegenwärtig in Berlin. In den östlichen Bezirken der Stadt hat die PDS längst dafür gesorgt, daß ihre Leute wieder in maßgeblichen Funktionen sitzen: in den Rathäusern, in sozialen Organisationen und Einrichtungen, in den Schulen, in der Wirtschaft. Das Kadernetz ist zwar löchriger geworden, aber es hält noch immer. Nun hofft Gysi, es über ganz Berlin werfen und die Macht ausdehnen zu können. Die ultima ratio dieser Leute, ob sie sich Kommunisten oder demokratische Sozialisten nennen, heißt: "Wer wen".

Wer in der DDR gelebt hat, wem die marxistischen Phrasen oft genug um die Ohren gehauen worden sind, der erkennt diesen totalen Machtanspruch auch hinter den wohlgesetzten Worten des PDS-Programms. Und zuweilen spricht einer der Kader, die jetzt Politiker heißen, ja auch mal Klartext. Zum Beispiel der stellvertretende Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Holter, der kurz vor der Regierungsübernahme in Schwerin eingestand, Ziel der PDS sei die "Systemüberwindung". Oder der Ehrenvorsitzende der PDS, Hans Modrow, der unlängst erklärte, die PDS sei eine Partei "eigenen Typs". Sie halte am Sozialismus fest, und auf dem Wege dorthin ständen die bestehenden Eigentums- und Machtverhältnisse im Wege - also unsere Demokratie. - Das, davon bin ich überzeugt, sind nicht bloß Versprecher. Das sind die wahren Absichten dieser Nachfolgepartei. Die SED-Diktatur ist längst nicht verjährt.

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