Deutschlandfunk, 20. Dezember 2009

Denk ich an Deutschland... Notizen für einen Rundfunkbeitrag

von Konrad Weiß


Denk ich an Deutschland ...
... dann denke ich an ein Land, dem eine wunderbare Natur geschenkt ist, Meer und Berge, Moor und Wald, Wiesen und reiche Felder. Ein Land, in dem Großartiges erbaut wurde, Städte und Dörfer, Dome und Klöster. Ein Land, das Menschen eine Heimat ist. Ich sehe aber auch, daß vieles von dem, was von den Generation zuvor bewahrt und geschaffen wurde, nun mißachtet und gering geschätzt wird. Vieles, was in Jahrhunderten geworden ist, wird für eine Mode leichtfertig geopfert. Ein Volk ohne Gedächtnis aber ist nicht lebensfähig. Nur wenn ich weiß, daß sich mein Schicksal, meine Leistung auf die vielen stützt, die vor mir gelebt und gedacht und gearbeitet haben, nur wenn ich demütig erkenne, daß ich Glied in einer Kette bin, nur dann kann ich Zukunft gestalten.

Weg durch die Dünen an der Odde auf Sylt © Zoonar.com/Konrad Weiß

Denk ich an Deutschland ...
... dann schwanke ich zwischen Freude und Sorge. Ich bin noch immer glücklich, das Deutschland wieder ein Land ist, und daß Nationalsozialismus und Kommunismus Vergangenheit sind. Aber ich sehe auch mit Sorge die Gleichgültigkeit so vieler. Denn ich weiß, daß die Demokratie, die wir mit so großer Mühe errungen haben, gefährdet ist. Denn Demokratie ist ja kein Zustand, sondern eine immerwährende Aufgabe, sie muß geschützt und verteidigt werden, muß geschützt und verteidigt werden von uns, den Bürgern dieses Landes. Nur Unmündige und Untertanen lassen sich die Verantwortung für sich selbst abnehmen. Wenn aber der Staat meint, seinen Bürgern Wohlergehen und Glück aufzwingen zu sollen, dann sollten alle Alarmglocken schrillen. Denn das sind Vorboten des Totalitären.

Ringelgänse im April auf Hallig Hooge © Zoonar.com/Konrad Weiß

Denk ich an Deutschland ...
... dann denke ich an ein Land, in dem zu viel getan und zu wenig gedacht wird. Die alte Tugend der Deutschen, das Denken und Bedenken, manche nennen es herablassend Grübeln, scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Dabei meint Grübeln doch das Graben nach der Wahrheit. So aber haben Scharlatane und falsche Propheten immer noch und wieder ein leichtes Spiel. Der antitotalitäre Konsens, der in der alten Bundesrepublik lange galt, scheint aufgekündigt. Populistische Politiker und Parteien, die ihre Wurzeln im Totalitären haben, gewinnen wieder Wähler und Einfluß und Macht. Hohlredner, die das Blaue vom Himmel versprechen, haben wieder Konjunktur.

Herbstlicher Weg am Kloster Chorin © Zoonar.com/Konrad Weiß

Denk ich an Deutschland ...
... dann denke ich an ein Land, das heimgekehrt ist nach Europa. Ich weiß, daß Europa uns schützt, auch vor uns selbst. Die Friedliche Revolution in der DDR, die Wiedervereinigung wären undenkbar gewesen ohne die osteuropäischen Revolutionen, undenkbar auch ohne die Solidarität aller Europäer. In den Stunden vor fünfundzwanzig Jahren, als die Mauer geöffnet wurde, hat sich ganz Europa, ja die ganze Welt mit den Deutschen gefreut. Unsere Nachbarn vertrauten uns. Ihr Vertrauen war die Voraussetzung der Wiedervereinigung. Europa war und ist die unverzichtbare Bedingung der Einheit Deutschlands.

Die Panke in Berlin-Pankow im Winter © Zoonar.com/Konrad Weiß

Denk ich an Deutschland ...
... denk ich an ein Land, daß es ganz allmählich und mühsam lernt, ohne nationalen Dünkel und nationalistische Selbstvergötzung zu leben. Auch wenn wir heimgekehrt sind nach Europa, die Last unserer Geschichte dürfen wir nicht abwerfen. Darin gerade bewies sich ja der Großmut unserer Nachbarn, daß sie uns mit dieser Last aufgenommen haben und sie mit uns tragen. Auschwitz ist unsere schlimmste Schuld, und die Shoa ist eine Bürde auch im neuen Deutschland. Auschwitz war die schrecklichste Entartung der abendländischen Idee. Daß so Schreckliches nie wieder geschieht, liegt nun in der Verantwortung aller Europäer. Es ist gut für Deutschland, daß es nicht mehr allein ist, weder in seiner Schwachheit noch in seiner Stärke.

Text und Fotografien © Konrad Weiß 2009-2024
Alle Bilder sind aus meiner Kollektion bei der Fotoagentur ZOONAR