Publik-Forum, Nummer 1 vom 12. Januar 2018

Gegen das Gift des Hochmuts

Demütig zu sein, erniedrigt den Menschen nicht, sondern hebt ihn über sich hinaus

von Konrad Weiß

In meiner Jugend bin ich mit der Aktion Sühnezeichen nach Auschwitz gepilgert. Wir waren die erste Gruppe junger Deutscher, die im ehemaligen Vernichtungslager gearbeitet hat. Wir waren damit betraut worden, die Grundmauern des sogenannten Weißen Hauses, der ersten Vergasungsstätte in Birkenau, zu suchen und freizulegen. Auf den Feldern um das Gehöft herum hatte die SS die Asche der Ermordeten verstreuen lassen. Nun, 1965, zwanzig Jahre nach dem Krieg, war Gras darüber gewachsen. Doch wenn wir einen Grassoden aushuben, griffen wir in die Asche der ermordeten Menschen. Und zuweilen fanden wir letzte Habseligkeiten, Gebissteile, ein Brillengestell, eine Kindermurmel.

Es gibt Orte, die demütig machen. Auschwitz gehört dazu. Bis heute kann ich nicht ohne tiefste Scham dort sein. Es war und ist für meine Generation und für die Nachgeborenen ja nicht die Frage der Schuld. Kollektivschuld gibt es nicht, Schuld ist immer etwas Persönliches. Aber Scham und Demut bleiben an diesem Ort keinem Deutschen erspart. Und das ist heilsam. Daraus kann die Verantwortung erwachsen, dafür einzutreten, daß Auschwitz nie mehr geschieht.

Heute stehen wir wieder vor Herausforderungen, wie es sie lange nicht mehr gab. Vielerorts in der Welt scheint Nationalismus an Boden zu gewinnen, jene archaische Ideologie des Hochmuts, die andere Menschen geringer schätzt als die eigene Sippe. Das hochmütige "America First" des amerikanischen Präsidenten droht auszulöschen, was wir im letzten Jahrhundert mühsam genug über Menschenrechte und Demokratie, Solidarität und Verantwortung füreinander begriffen haben. Eine rastlose Wachstumspolitik versucht hochmütig, die Grenzen der Natur zu ignorieren - und bedroht die Natur und das Weltklima. Europa, dieses einzigartige, alternativlose Projekt der Vernunft, ist zumindest gefährdet: Wenn so viele Völker und Länder ihre Zukunft gemeinsam gestalten wollen, geht es nicht ohne den demütigen Grundsatz, den jeweils anderen in seiner Art und Eigenart anzuerkennen. Das Gift des Hochmuts hingegen, das einige immer wieder absondern, schädigt und schwächt alle.

Oberflächlich betrachtet, scheint Demut in unserer Welt ja überflüssig und aus der Mode gekommen zu sein, gerade im politischen und öffentlichen Raum. Es ist eine Tugend, die gering geachtet wird. Für den Dominikanerpater und Philosophen Thomas von Aquin zählte Demut noch zu den Kardinaltugenden. Für den Philosophen Friedrich Nietzsche hingegen ist Demut ein gefährliches Ideal, hinter dem sich Feigheit und Schwäche und Ergebung in Gott versteckten. Auch in den sich selbst vergötzenden Ideologien des vergangenen Jahrhunderts, dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus, war per Definition kein Raum für den sich aus freiem Willen beugenden, demütigen Menschen. Demut wurde stets als Unterwürfigkeit, Unterordnung, Kriecherei mißverstanden und denunziert. Das scheint vielfach bis heute nachzuwirken.

Die einfachste und zugleich genaueste Begriffsbestimmung dessen, was Demut ist, habe ich bei Siegfried Rudolf Dunde gefunden. Der katholische Religionssoziologe schrieb 1986, Demut sei eine Gesinnung, bei der sich der Mensch als Mensch erkenne. Er berief sich dabei auf Augustinus, in dessen Schriften die Demut vor Gott und das Geschenk der Demut Gottes an die Menschen ein zentrales, wiederkehrendes Thema sind. Insofern mag die Formel, die Dunde gefunden hat, zu säkular und verkürzend sein und dem heiligen Augustinus nicht gerecht werden. Aber es ist eine Auffassung von Demut, die sich mühelos auch Gläubigen anderer Religionen oder Atheisten erschließen sollte. Sie entspricht dem Denken unserer Zeit, ohne jedoch modisch zu sein. Und könnte vielleicht gerade dadurch zur Renaissance einer geächteten Tugend beitragen.



Aktion Sühnezeichen in Sachsenhausen © Konrad Weiss 1964
Aktion Sühnezeichen 1964 im ehemaligen KZ Sachsenhausen

Zu den Orten, die demütig machen, gehört die Gedächtniskapelle in der Dresdner Kathedrale, der früheren Hofkirche. Dort ist eines der großartigsten Kunstwerke aufgestellt, das zu DDR-Zeiten geschaffen worden ist: die Pietà von Friedrich Press, eine überlebensgroße stilisierte Figurengruppe aus weißem Meißner Porzellan. Sie ist dem Gedächtnis der Opfer des Bombenangriffs vom 13. Februar 1945, aber auch der Opfer aller Gewalt geweiht. Ich habe den Bildhauer 1985 in seinem Atelier besucht und einen demütigen, zutiefst frommen Künstler kennengelernt. In seinem knorrigen Westfälisch hatte er auch über seine Pietà gesprochen: "Ich hab mir gesagt, das Ganze hier ist eine Dresdner Sache, die Zerstörung, und was paßt da besser als der tote Christus, der zerstörte Christus. Und so hab ich die Pietà genommen und hab den Christus quer über den ganzen Altar gelegt, das Haupt abgekippt, fast abgebrochen. Außer der Riesenherzwunde ist gar nichts daran, keine Arme, keine Beine, nichts. Und dahinter steht als Stele Maria mit den Riesenaugen; und die trägt die Dornenkrone. Das ist die Dornenkrone als höchste Auszeichnung, die wir überhaupt haben, da kommt keine Kaiserkrone mit."

Seither ist die Dresdner Pietà für mich auch ein Symbol der Demut, des Bekennens der Schuld, des demütigen Beugens vor Gott. Friedrich Press ist kurz nach der Friedlichen Revolution gestorben. Ich denke oft an den Bildhauer und seine Pietà, wenn ich nun Bilder von den lautstarken nationalistischen Aufmärschen auf dem Platz neben der Hofkirche sehe. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Leute, die dort brüllen und marschieren, je schweigend vor der Dresdner Pietà gestanden und darüber nachgedacht haben, was damals im Feuersturm mit ihrer Stadt geschehen ist. Oder sind sie zu feige, demütig zu sein?

Demut erfordert Mut. Es erfordert Mut, die Grenzen des Menschseins und die eigenen Grenzen zu erkennen. Demut ist eine sehr menschliche Möglichkeit, aber sie wird uns nicht geschenkt. Sie muss als Wert erkannt und als Tugend geübt werden. Das heißt nicht, sich klein zu machen, im Gegenteil: Demut setzt innere Freiheit und Größe voraus. Nur Menschen mit einer lebendigen Seele können demütig sein. Aber andere Menschen zu demütigen oder sich demütigen zu lassen, das ist eine Verkehrung dessen, was Demut meint. In totalitären Regimes gehören Demütigungen zum System. Mir fallen auf Anhieb Dutzende solcher Situationen in der DDR ein, wo Menschen bewusst gedemütigt werden sollten und gedemütigt worden sind.

An ein Geschehnis erinnere ich mich bis heute voller Zorn und Scham. Ich habe Mitte der 1980er Jahre an einem Film über Janusz Korczak gearbeitet und dabei auch ehemalige Zöglinge aus dem Jüdischen Waisenhaus in Warschau kennengelernt. Einer von ihnen war Leon Harari, der als Junge Redakteur bei Korczaks Kinderzeitung war. Wir wurden Freunde. Leon lebte seit der Flucht aus dem von Deutschen besetzten Polen im Kibbuz Maale Hachamisha bei Jerusalem, den er mit aufgebaut hat. Gemeinsam mit seiner Frau Geula, die in Berlin geboren war, wollte er uns in Ostberlin besuchen.

Damals durften Ausländer nur über den Check Point Charly in der Friedrichstraße einreisen. Dort nahmen DDR-Grenzer den beiden alten Leuten die Ausweise ab und ließen sie anderthalb Stunden im Freien in der Kälte stehen. Schließlich hörte Geula, wie eine Grenzpolizistin sagte: Jetzt haben die Juden lange genug gewartet, jetzt lassen wir sie gehen. Unsere Freunde waren völlig erschöpft, als sie dann endlich bei uns waren. Ich habe mich selten so geschämt für etwas, was Landsleute getan haben. Der tief verwurzelte Antisemitismus der SED war kein Geheimnis. Aber daß sie zwei Juden, die vor den Deutschen aus ihrer Heimat hatten fliehen müssen, so blindwütig demütigen würden, hatte ich bis dahin für undenkbar gehalten. Doch zur Demut, zur Anerkennung der eigenen Begrenztheit waren die Machthaber bis zuletzt nicht fähig. Auch daran sind sie gescheitert. Heute nun gibt es neuen Antisemitismus in unserem Land. Auch darum müssten wir - gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte - neu über Demut nachdenken.

Doch für viele Menschen ist es vermutlich befremdlich, über Demut zu reden oder zu debattieren. Entweder setze ich mich dem Vorwurf aus, hochmütig zu sein. Oder das Gespräch bleibt abstrakt und unpersönlich.

Dabei ist Demut in vielen Professionen eine unerlässliche Haltung und Voraussetzung: für Ärzte und Wissenschaftler, für Künstler und Architekten, für Pädagogen und Theologen - eben überall dort, wo wir als Menschen mit unseren Möglichkeiten an Grenzen stoßen. Uns Menschen wäre viel Leid erspart geblieben, Kriege, Katastrophen und Umweltzerstörung wären verhindert worden, wenn nicht alles, was machbar geworden ist, gemacht worden wäre. Wenn also die Verantwortlichen Mut zur Demut gezeigt hätten. Heute stehen wir wieder vor Entscheidungen, die der Menschheit vielleicht neue Möglichkeiten, viel wahrscheinlicher aber neue Gefahren bescheren werden, künstliche Intelligenz oder gentechnische Manipulationen zum Beispiel. Manche Forscher und Wissenschaftler scheinen blind vor Hochmut zu sein, bedenken jedes technische Detail, aber verlieren kaum einen Gedanken an die möglichen Folgen und Konsequenzen ihres Handelns. Denn das würde voraussetzen, daß sie die eigene Begrenztheit anerkennen.

Auch im politischen Alltag ist es schwer, Demut glaubwürdig zu leben. Umso wichtiger ist es, darüber um der Zukunft willen zu diskutieren. Zwar weiß jeder Abgeordnete und jeder Minister bei der Wahl, daß ihm sein Amt oder Mandat nur auf Zeit übertragen wird. Allein dies müsste demütig machen. Zugleich aber ist damit immer, ob man es will oder nicht, so viel mehr öffentliches Interesse, Bedeutungsgewinn und Macht verbunden. Es ist fast unmöglich, demütig zu bleiben. Heute wird jeder noch so unfertige oder vorschnell ausgesprochene Gedanke binnen weniger Augenblicke fast unendlich verbreitet und gewinnt allein dadurch an Bedeutung. Man muss schon sehr stark sein, sich dann nicht selbst auf den Leim zu gehen. Das über Jahre durchzustehen ist fast unmöglich. Dann demütig zu bleiben gelingt wirklich nur den Stärksten - und Frauen wahrscheinlich eher als Männern.


Auschwitz Birkenau Grundmauern © Konrad Weiss 2008
Grundmauern der ersten Vergasungsstätte in Auschwitz Birkenau

Obwohl einerseits alle Welt von Politikern Demut fordert oder erwartet, wird ihnen ein Bekenntnis der Demut nur selten geglaubt. Selbst die zutiefst menschliche Geste Willy Brandts, der Kniefall vor dem Denkmal der Getto-Kämpfer in Warschau im Dezember 1970, ist damals von vielen in der deutschen Öffentlichkeit abgelehnt und hämisch kommentiert worden. Willy Brandt selbst schrieb später über diesen Augenblick: "Am Abgrund der deutschen Geschichte und der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt." In Polen und Israel ist genau dies verstanden worden, und so hat diese demutsvolle Geste schließlich viel zur Aussöhnung unserer Völker beigetragen.

Viel häufiger offenbart sich jedoch ein Mangel an Demut. Politiker, Manager, führende Persönlichkeiten fühlen sich unentbehrlich und unersetzlich und kleben am Amt, obwohl es sie in Wirklichkeit längst überfordert und es andere und jüngere gibt, denen man die Verantwortung getrost übergeben könnte. Oder sie können sich nicht lösen, nehmen einen Abschied und noch einen und kehren doch wieder zurück. Macht und Ämter erscheinen wie Drogen. Von außen betrachtet, grenzt das oft an Lächerlichkeit. Es offenbart aber auch, wie verführerisch und zersetzend Macht sein kann, wie leicht sie Menschen zerstört.

Wer aus einem Amt oder Mandat geschieden ist, wird dann oft die Erfahrung machen müssen, daß man alsbald nicht mehr gefragt ist. Daß also die vorherige Aufmerksamkeit nicht der Person galt, sondern dem Amt, der Funktion, der Aufgabe. Das ist eine Erfahrung, die nicht nur jeder scheidende Abgeordnete oder Minister machen muss, sondern Menschen in allen Lebensbereichen. Nur wer sich Demut bewahrt hat, wird das nicht als demütigend empfinden, sondern als den natürlichen Lauf der Welt.

Sich als Mensch zu erkennen und anzuerkennen, das klingt einfacher, als es ist. Demut will geübt und erlernt sein. Im Laufe eines langen Menschenlebens werden uns viele Gelegenheiten dazu gegeben: durch Orte und Kunstwerke, Begegnungen und Berührungen, Geburt und Tod, am Krankenbett eines geliebten Menschen, durch eine eigene Krankheit, ein Versagen, ein Scheitern. Demütig zu sein erniedrigt den Menschen nicht, sondern hebt ihn über sich hinaus.

Text und Fotografien © Konrad Weiß 1964-2024