Deutschlandfunk Köln, Die Sonntagskolumne, 3. Januar 1999

Bürgerrechtler in China

von Konrad Weiß

In seiner letzten Rede, im April 1968 in Memphis, stellte Martin Luther King sich die Frage, für welche Epoche er sich entscheiden würde, wenn er am Anbeginn der Zeiten stände und die Möglichkeit hätte, die ganze Menschheitsgeschichte zu überschauen. Er würde, so seltsam der Wunsch erscheine, den Allmächtigen um ein paar Jahre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bitten:

Irgendwie weiß ich, daß man die Sterne nur sehen kann, wenn es dunkel genug ist. Und ich sehe Gott in dieser Zeit des 20. Jahrhunderts schwer arbeiten, so daß die Menschen darauf reagieren - etwas passiert in unserer Welt. Die Massen der Menschen erheben sich. Und wo auch immer sie versammelt sind, der Schrei ist immer derselbe: Wir wollen frei sein. Das ist alles, worum es geht. Wir protestieren gegen nichts und streiten mit niemanden. Wir sagen nur, daß wir entschlossen sind, Menschen zu sein.

So der amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King. Ich kenne keine bessere Definition dessen, was Bürgerrechtsarbeit ist. Um nichts anderes ging es vor zehn Jahren in der DDR, in den ost- und mitteleuropäischen Ländern, in der Sowjetunion. Um nichts anderes geht es heute in China: Um die Freiheit, Mensch zu sein.

Vor einigen Wochen hat die Volksrepublik China, nach jahrzehntelangem Zögern, die internationale Konvention über die bürgerlichen und politischen Rechte unterzeichnet. Sie hat sich damit verpflichtet, ihren Bürgerinnen und Bürgern elementare Rechte zu gewähren, zum Beispiel, sich friedlich zu versammeln und politische Vereinigungen zu bilden. Als aber einige Bürgerrechtler davon Gebrauch machen wollten, wurden sie verhaftet und zu grausamen Gefängnisstrafen verurteilt, teilweise in rechtswidrigen Geheimprozessen und ohne Mitwirkung eines Anwalts.

Der Bürgerrechtler Xu Wenli, der schon einmal zwölf Jahre lang eingekerkert war, wurde zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Drei andere, Wang Youcai, Qin Yongmin und Zhang Shanguang, erhielten Strafen zwischen zehn und zwölf Jahren. Ihr Verbrechen: Eine demokratische Partei gegründet, die führende Rolle der Kommunisten in Frage gestellt und von ihrem Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht zu haben. Das chinesische Außenministerium nannte die Prozesse zynisch "normale gerichtliche Aktivitäten eines Rechtsstaates." Und wie in totalitären Regimen üblich, wurden die Bürgerrechtler zu gewöhnlichen Kriminellen erklärt. Der Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte wurde gebrochen, kaum daß er unterzeichnet war. Es ist, als ob die chinesischen Kommunisten die Weltöffentlichkeit verhöhnen wollten.

Seitdem im Jahre 1989 die Demokratiebewegung blutig niedergeschlagen worden ist, haben in China die Hinrichtungen dramatisch zugenommen. Jährlich werden mehrere tausend Menschen zum Tode verurteilt. Die Urteile werden häufig auf Massenversammlungen verkündet, bei denen die Verurteilten in ihrer Todesangst vorgeführt werden. "200.000 Tote sind nicht zu viel für mich, um zwanzig Jahre Stabilität in der Zukunft zu garantieren... Was sind schon eine Million Tote bei einer Bevölkerungszahl von einer Milliarde?" - so die Rechnung des Kommunisten Deng Xiaoping nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. 1995 wurde die Anwendung der Todesstrafe sogar noch ausgeweitet, inzwischen können 68 Delikte mit dem Tod bestraft werden. Darunter auch solche, die nicht die Anwendung von Gewalt voraussetzen. Vor einigen Tagen wurden zwei Computer-Hacker zum Tode verurteilt, die in den Rechner einer Bank eingedrungen waren und einige zehntausend Mark gestohlen hatten. Auch dieses Urteil verstößt fraglos gegen die von China unterzeichnete Konvention.

Für jeden demokratischen Staat stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, wie er sich zu einem derart menschenverachtenden Regime verhält. Die Befürchtung, die völlige Isolation des Landes könne die Situation im Innern verschärfen, ist nicht von der Hand zu weisen. Und natürlich haben wir Europäer uns angesichts einer hochmütigen, grausamen Kolonialgeschichte vor leichtfertigen Ratschlägen zu hüten. Wenn aber universelle Menschenrechte unter Hinweis auf angebliche asiatische Werte verletzt werden, ist dies nichts anderes als Demagogie. Der chinesische Bürgerrechtler Wei Jingsheng warnt den Westen ausdrücklich davor, der Lüge von einem besonderen "asiatischen Wertesystem" auf den Leim zu gehen. Die Kernthese der Kommunisten, wonach Chinas Menschenrechte Essensrechte seien, sei in Wahrheit schamlos und zutiefst diskriminierend für die Chinesen.

Die Erkenntnis, daß die Menschenrechte an jedem Ort und für jeden Menschen zu gelten haben, wurde so bitter gewonnen, daß niemand zum Unrecht, das in China geschieht, schweigen darf. Auch wirtschaftliche Rücksichten dürfen kein Hinderungsgrund sein. Mag der Handel mit China noch so lukrativ sein und mag er noch so viele Arbeitsplätze bei uns im Land sichern - die Menschenrechte sind das höhere Gut. Die Bürgerrechtler, die in China für das Recht eintreten, in Freiheit Mensch zu sein, und die dafür verfolgt werden, haben einen Anspruch auf Solidarität.

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