Deutschlandfunk Köln, Die Sonntagskolumne, 28. Februar 1999

Arbeit und Solidarität

von Konrad Weiß

Auch in diesem Jahr wieder war die IG Metall Vorreiter des alljährlichen Tarifrituals: Forderungen und Angebote, empörte Ablehnungen und verbissenes Feilschen, Streikdrohungen und Warnstreiks und am Ende ein Kompromiß. Mit dem Schlichtungsergebnis von Böblingen scheinen die baden-württembergischen Gewerkschaften besser gefahren zu sein, als sie zugeben. Hurtig wurden die Vereinbarungen von den anderen Tarifbezirken übernommen. Auch die Unternehmer wird dieser Tarifvertrag nicht in den Ruin treiben, trotz allen Jammerns. Allenfalls wird der Gewinn ein wenig geschmälert. Aber das läßt sich ja leicht durch den Abbau von Stellen kompensieren.

Und dagegen haben die Gewerkschaften offenbar nichts. Die Begriffe Arbeitslosigkeit oder Arbeitslose kommen jedenfalls in den Tarifverträgen nicht vor. Vermutlich haben sie auch in den Verhandlungen keine Rolle gespielt. Die IG Metall ist schließlich die Lobby von Arbeitsplatzbesitzern - nicht von Arbeitern, die arbeitslos sind. Um die hat sich der Staat zu kümmern. Die Tarifpartner geht das nichts an.

Ich finde diese Haltung reichlich antiquiert. Das ist das Denken des 19. Jahrhunderts, das die Gesellschaft nach dem Eigentum an Produktionsmitteln unterteilt - in die Klasse der Kapitalisten und des Proletariats. Dabei liegen die Probleme ausgangs des 20. Jahrhunderts darin, daß mit immer weniger menschlicher Arbeitskraft immer mehr produziert werden kann, und daß menschliche Arbeitskraft fast überall auf der Welt spottbillig, nur im reichen Norden unverschämt teuer ist. Das spaltet heute die Menschheit. Hierzulande stehen viereinhalb Millionen Arbeitslose einer wohlhabenden und egoistischen Klasse von Arbeitsplatzbesitzern gegenüber, die nicht daran denkt, ein wenig von ihrem Besitzstand abzugeben.

Während die IG Metall noch mit den Unternehmern um höhere Löhne und Gehälter focht, wurden die aktuellen Arbeitslosenzahlen bekanntgegeben. Auch das ist inzwischen ein Ritual, das kaum noch jemanden aufregt. Drei Millionen Arbeitslose waren es im Januar im Westen und im Osten 1,4 Millionen. Viele dieser Menschen, soviel ist sicher, werden nie wieder einen Arbeitsplatz haben, sind überflüssig, werden nicht gebraucht. Von den Gewerkschaften können sie keine Solidarität erhoffen.

Denn vieles von dem, was Arbeitsplätze schaffen könnte, ist unpopulär bei den Arbeitsplatzbesitzern. Statt Arbeit abzugeben, machen sie massenhaft Überstunden: 1,83 Milliarden waren es im vorigen Jahr. Die könnten, so die Bundesanstalt für Arbeit, leicht in dreihundert- bis vierhunderttausend neue Arbeitsplätze umgemünzt werden. Selbst der Deutsche Gewerkschaftsbund hält 200.000 neue Jobs durch den Verzicht auf Überstunden für möglich und wirtschaftlich verkraftbar. Warum, fragt man sich, machen dann die Gewerkschaften nicht den radikalen Abbau von Überstunden zum Kernpunkt eines jeden Tarifvertrages?

Ein anderer Weg, bestehende Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen, wäre der Verzicht auf die traditionellen Lohn- und Gehaltserhöhungen zugunsten einer Beteiligung am eigenen Unternehmen. Merkwürdigerweise halten die meisten Gewerkschafts- Funktionäre davon überhaupt nichts. Fürchten sie um ihre Pfründe, wenn die Arbeiter Eigentümer und somit unmittelbar am Wohl und Wehe ihres Unternehmens beteiligt sind? Oder lehnen sie die investive Ertragsbeteiligung ab, weil so etwas bei Karl Marx noch nicht vorkam? Fraglos könnten die Arbeiter durch die Beteiligung am Produktivvermögen mehr Einfluß auf die Unternehmenspolitik nehmen - zum Beispiel, um den sorgsamen Umgang mit Arbeitsplätzen als wichtiges Unternehmensziel zu postulieren.

Jede wirtschaftliche Expansion, die nicht zugleich auch soziales Wachstum gewährleistet, also ein Mehr an Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie bringt, muß letztendlich, auf das Ganze und auf die Zukunft betrachtet, als unwirtschaftlich begriffen werden. Der Abbau von Arbeitsplätzen, auch wenn er ein Unternehmen kurzzeitig profitabler macht, ist volkswirtschaftlich betrachtet, immer ein Verlust. Denn dann muß die Allgemeinheit, oft auf Jahrzehnte hin, für die aufkommen, die ihre Arbeit verloren haben. Muß denn wirklich immer, wo es technisch nur machbar ist, menschliche Arbeitskraft durch Maschinen ersetzt werden? Sollte nicht die möglichst hohe Anzahl der Beschäftigten, denen ein Unternehmen Arbeit und Brot gibt, eine ebenso wichtige Kennzahl sein wie der Gewinn oder der möglichst geringe Verbrauch von Energie und Rohstoffen?

Das, meine ich, kann nicht zuerst die Aufgabe der Politik sein. Es muß von den Tarifpartner selbst, von der Wirtschaft und von den Gewerkschaften, als die eigentliche Herausforderung zur Standort- und Zukunftssicherung in Deutschland verstanden werden.

© Konrad Weiß 1999-2024