Bald nach dem 13. August 1961 war Lothar Kreyssig aus der Leitung der Aktionsgemeinschaft für die Hungernden und der Aktion Sühnezeichen ausgeschieden. Er hatte sofort begriffen, daß er aus der abgetrennten und isolierten DDR heraus nicht mehr die Verbindung zu Menschen und Ereignissen haben würde, die für eine solche Aufgabe unerläßlich ist. Franz von Hammerstein war an seine Stelle getreten. Bei Kreyssigs Ausscheiden waren vier Freiwilligengruppen der Aktion Sühnezeichen im Einsatz, auf den Beginn der Arbeit in Israel wurde gewartet. Kreyssig ließ es sich auch jetzt nicht nehmen, den Mannschaften in Holland und Frankreich, in Griechenland und England Woche für Woche zu schreiben; zuweilen ließ er auch Bemerkungen über die politische Situation einfließen. Er sprach seine Briefe noch immer mit Vorliebe auf Band; auf verschlungenen Wegen kamen die Bänder zu seiner Sekretärin und Mitarbeiterin Frau Scheiff in West-Berlin und von dort unzensiert und unkontrolliert zu den Empfängern.
Es war eine dramatische Zeit. Auch Lothar Kreyssig mußte, wie viele Menschen in der DDR, seine Lebensverhältnisse grundlegend ändern. Er mußte hinnehmen, daß er endgültig abgeschnitten war von Verwandten und Freunden, von einem Teil seiner Arbeit und seiner Mitarbeiter im Präsesbüro, auch von dem, was ihm das wichtigste war: von der Aktion Sühnezeichen. Angesichts der Erschwernisse und Behinderungen, denen er in der DDR auch vor dem Mauerbau schon ausgesetzt gewesen war, hatte er frühzeitig die Gefahr geahnt, von der Wirklichkeit abgeschaltet, zu einer Art Emigrant im eigenen Land zu werden, "eine seltsam gläserne, lebensferne Situation, kalt, gletscherhaft ..." Das war nun eingetreten. Dagegen wog anderes gering. Den endgültigen Verlust der Druckerei in Leipzig erwähnte er nur noch beiläufig. Daß ihm und zwölf anderen die SED in diesem Herbst die Ausreise nach Neu-Delhi zur Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen nicht genehmigt hatte, schmerzte ihn zwar, aber er empfand es eher als Auszeichnung denn als Demütigung. Auch sonst habe er keinen Augenblick getrauert, schrieb er an seinen Freund Hans J. Rinderknecht in die Schweiz: "Gott macht keine Fehler. Er kann nach dem 31. Psalm auch indem er uns einsperrt unsere Füße auf weiten Raum stellen." Dennoch fürchtete er: "Die Existenz im Gefängnis ist bekanntermaßen Anfechtung besonders insofern, als sich der Häftling auf die Dauer der Einflüsterung nicht erwehren kann, daß seine Angelegenheiten draußen - wie am Ende er selbst - in zunehmendem Maße vernachlässigt und vergessen seien."
Aus dieser Gefangenschaft heraus schrieb er den jungen Freiwilligen, die - in innerer wie äußerer Freiheit - dabei waren, in Frankreich und Holland ein Sühnezeichen für deutsche Schuld zu errichten, und die sich anschickten, nach Israel zu gehen, von der Angst, die ihn erfüllte und die alle sonstigen Sorgen überschattete, die Angst, daß in diesen Tagen nach dem Mauerbau der Friede schon verloren und aufgehoben sein könnte: